Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Jacobys Vier Fragen. 139 
Revolution und dem polnischen Aufstande verdankte. Jung war er nie ge— 
wesen, die Welt des Schönen blieb ihm so fremd wie das Spiel des 
Scherzes. In gebückter Haltung, und doch feierlich schritt der kahlköpfige 
kleine Mann daher, ein tiefer Ernst lag in den scharfgeschnittenen Gesichts— 
zügen, in den durchdringenden stechenden Blicken der großen blauen Augen. 
Alles verriet sogleich den sittenstrengen, fleißigen, bedürfnislosen Stuben— 
gelehrten. Obgleich er als spinozistischer Freidenker die Synagoge grund— 
sätzlich nie betrat, so meinte er sich doch berufen, im Namen seiner Glaubens- 
genossen zu reden, und schrieb schon als junger Mann ein geharnischtes 
Büchlein für die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten. Diese Schrift 
und eine zweite noch schärfere wider die preußische Zensur verschafften ihm 
bald ein hohes Ansehen unter den Liberalen Königsbergs; bei den Samm- 
lungen für die Göttinger Sieben erschien er schon wie ein Parteiführer. Da 
die Ostpreußen von allen Deutschen am besten verstehen, sich ihre Juden zu 
erziehen, so war auch Jacoby weit mehr Ostpreuße als Jude. Nur die 
vordringliche Dreistigkeit erinnerte an die orientalische Abstammung; den 
Grundzug seines Charakters bildete jener starre altpreußische Rechts= und 
Freiheitstrotz, der schon so viel Ruhm und so viel Elend, den Befreiungs- 
krieg so gut wie den Eidechsenbund und die polnische Herrschaft über das 
alte Ordensland gebracht hatte. Was er für Recht hielt, dabei blieb er, 
unerschrocken und unbelehrbar; wer anders dachte, war dem Fanatiker 
kaum mehr denn ein Tor oder ein Schurke. Auch den starken Provinzial- 
stolz teilte er mit seinen Landsleuten; sprach er von der Stadt, „wo einst 
Kant die Welt erleuchtete,“ dann klang durch seine allezeit ernsthafte Rede 
ein Ton hohenpriesterlicher Salbung. Von politischem Talente besaß er 
freilich gar nichts. Wie einst Bailly, Condorcet und so viele andere in 
das Staatsleben verschlagene radikale Naturforscher lebte er der Meinung, 
daß man in der Politik jener Sachkenntnis, welche die exakten Wissen- 
schaften verlangen, nicht bedürfe, sondern mit einigen abstrakten natur- 
rechtlichen Sätzen und etwas kecker Dialektik wohl auskomme. Darum 
konnte er sich nur in einer Zeit der Erwartungen, der Wünsche, der Pro- 
gramme einen Eintagsruhm erringen. Sobald die Tage des Bauens und 
Gestaltens kamen, da ward seine politische Unfruchtbarkeit offenbar, und 
die unaufhaltsame Logik seines harten Verstandes, der die Ehrfurcht vor 
der historischen Welt niemals lernte, trieb ihn dann von einer doktrinären 
Folgerung zur anderen, bis er endlich in einen bodenlosen, Vaterland und 
Gesittung zugleich zerstörenden Radikalismus versank. Unverkennbar stand 
ihm bei seinem Büchlein die Schrift von Sieyes OQu'estiee qduc le tiers 
Etat? vor Augen. Gleich dem Franzosen verstand er die Stimmungen 
des Augenblicks sicher zu treffen, gleich ihm schritt er hochmütig über die 
historische Welt hinweg, und der Gedanke, eine Revolution zu entfesseln, 
hatte auch für ihn keine Schrecken. 
Der König nannte die Vier Fragen sofort eine revolutionäre Schrift.
	        
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