Anton Stolberg. Thile. 19
vordem Graf Lottum, die regelmäßigen politischen Vorträge hielt. Ein
ernster gläubiger Sinn, redlich und ohne Wortprunk war in der preußi-
schen Armee von jeher heimisch; fast alle ihre berühmten Führer meinten
mit dem alten Dessauer: ein Soldat ohne Gottesfurcht ist nur ein Matz;
sie taten unbefangen ihre Pflicht und stellten das ungewisse Schicksal des
Kriegers demütig dem Herrn der Heerscharen anheim. Jetzt, unter
einem theologisierenden friedfertigen Könige, gewann ein neuer, ganz un—
preußischer Schlag von Offizieren die Gunst des Hofes, Männer, denen
das Gebetbuch teuerer war als der Degen, Soldaten nicht ohne mili—
tärisches Verdienst — denn alle hatten sie im letzten Kriege sich ritter—
lich gehalten — aber ohne den rechten, die ganze Seele erfüllenden mili—
tärischen Ehrgeiz. Ihre salbungsvolle Frömmigkeit erinnerte an Cromwells
gottselige Dragoner; von der fürchterlichen Härte der Puritaner besaßen
diese sanften romantischen Gläubigen freilich nichts. Zu ihnen zählte auch
Thile. Dem unscheinbaren kleinen Manne sah man nicht sogleich an, wie
brauchbar er in den Geschäften war, fleißig, gewissenhaft, federgewandt
und, tat es not, auch beredsam. An seinem Charakter haftete kein Makel;
in stillem Wohltun war er unermüdlich, selbst einen persönlichen Feind,
der ins Unglück geraten war, unterstützte er jahrelang unerkannt aus
seinen bescheidenen Mitteln. Befreundet mit Boyen und manchen an—
deren Offizieren von freierer Richtung, hielt er sich den politischen Ex—
tremen fern und scheute sich nicht, dem heißgeliebten Monarchen ehrlich zu
widersprechen. Jedoch zu selbständigen staatsmännischen Ideen erhob er
sich nicht, und nur zu oft ward sein politischer Blick getrübt durch eine
überspannte, mystische Frömmigkeit, die ihm bei den Berliner Spöttern
den Namen des Bibel-Thile verschaffte. Noch vor kurzem hatte er ernst-
lich daran gedacht, als Missionär nach Australien oder Afrika zu gehen.
Ebenso leidenschaftlich wie Friedrich Wilhelm verabscheute er jene neuen
Philosophen, welche, wie man bei Hofe sagte, die Bibel hegelten und den
Hegel bibelten; noch tiefer als der König war er durchdrungen von der
Überzeugung, daß jetzt der entscheidende Kampf zwischen Glauben und
Unglauben herannahte und neben diesem einen großen Gegensatze alle kon-
fessionellen Unterschiede verschwänden. Er glaubte nicht nur an die gött-
liche Führung der Geschichte mit einer fatalistischen Zuversicht, welche ihm
leicht die freie Tatkraft hemmte; er glaubte auch an die unmittelbare
Einwirkung der himmlischen Gnade auf die weltlichen Entschlüsse, und in
solchen Augenblicken der Verzückung ward seine politische Haltung schlechthin
unberechenbar. Als er einmal dem Grafen Stolberg seine Meinung
über die Neuenburger Händel auseinandergesetzt hatte, schrieb er dem
Freunde schon nach wenigen Stunden: „Heute früh sah ich nur mit
dem Auge des natürlichen Menschen in der Sache und faßte sie nur
von der sogenannten politischen Seite auf.“ Dafür wurde ich am Abend
beschämt, als „mir die Worte entgegengetragen wurden, daß über alle
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