Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Radowitzs Gespräche. Bunsen. 23 
händeln so sündlich verabsäumt worden sei. So begann ihm jetzt schon 
die Idee des preußischen Reiches deutscher Nation aufzudämmern, und er 
verhehlte nicht, daß er sich zuerst als einen Deutschen, dann erst als einen 
Preußen fühlte. Der König befragte und benutzte den alten Freund bei 
allen Fragen der deutschen Bundespolitik, doch er vermochte weder den 
Gedanken dieses Ratgebers ganz zu folgen, noch ihn an die entscheidende 
Stelle zu setzen. 
In den Gesprächen über Staat und Kirche (1846) faßte Radowitz 
seine politischen Ideen zusammen. Das anonyme Buch wurde von vielen 
für ein Werk des Königs selbst gehalten, obgleich die keusche Einfachheit 
dieser musterhaften Prosa mit dem aufgeregten Pathos Friedrich Wilhelms 
gar nichts gemein hatte. Es war seit Paul Pfizers Briefwechsel unzweifel- 
haft das bedeutendste Werk der deutschen Publizistik. Aber wie anders hatte 
einst der tapfere Schwabe verstanden, die erste Aufgabe des Publizisten zu 
erfüllen, den Willen der Leser auf ein festes Ziel zu richten; er benutzte die 
Form des Dialoges nur, um alle Einwendungen siegreich zu widerlegen, 
und schließlich mit höchster Bestimmtheit zu sagen, was er selber wollte: die 
Einheit Deutschlands unter Preußens Führung. In Radowitzs Gesprächen 
hingegen tauschten der hochkirchliche Offizier, der liberale Fabrikant, der 
strenge Bureaukrat, der jugendliche Sozialist ihre Ansichten aus, alle höf- 
lich, alle in sauber gewählten Worten. Dann trat Waldheim dazwischen, 
unverkennbar das Ebenbild des Verfassers, um mit staatsmännischer Ruhe 
jedem die Beschränktheit seiner Parteigesinnung nachzuweisen; über seine 
eigenen Meinungen äußerte er sich nur selten, kühl, zurückhaltend, un- 
maßgeblich. So hinterließ die Schrift doch den Eindruck einer geistreichen 
Hilflosigkeit, welche trotz oder wegen der Mannigfaltigkeit ihrer Gesichts- 
punkte schwer zu einem einfachen Entschlusse gelangte. Ihr fehlte die Macht 
der Begeisterung. Ihre Gedanken waren nicht aus einer Wurzel heraus 
mächtig emporgeschossen, sondern am Spalier gezogen, mehr ausgezeichnet 
durch edle Form als durch ursprüngliche Kraft. Sie bewies, wie frei und 
unbefangen ihr Verfasser dachte, der in der Tat, entwicklungsfähiger als 
der König, von der Unentbehrlichkeit der konstitutionellen Staatsform sich 
bald überzeugen sollte. Aber sie zeigte auch ihn angekränkelt von jenem 
vornehmen Dilettantismus, der sich wie ein Mehltau über alle Um- 
gebungen König Friedrich Wilhelms lagerte. Radowitz war von allem 
etwas, weder ganz Soldat, noch ganz Staatsmann, noch ganz Gelehrter; 
auch sein feiner und reicher, allen anderen preußischen Staatsmännern 
dieser Epoche überlegener Geist vermochte der Zeit nicht zu bieten, was 
sie brauchte: die furchtbare Einseitigkeit einer dämonischen Willenskraft. 
Wäre es mit Plänen, Einfällen, edlen Vorsätzen getan gewesen, 
dann hätte Bunsen der Zeit helfen können. Was kümmerte es ihn, daß 
die Berliner Geheimräte ihm den so kläglich mißlungenen Kampf gegen 
Rom nachtrugen und ihn, von wegen der Anconer Note, nur noch den
	        
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