Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

382 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
so viel Lust und so viel Leid geschenkt, brach er weinend zusammen — 
ein erschütternder Anblick für jeden, der Menschenschuld und Menschen— 
ruhm menschlich zu verstehen vermag. 
So klirrte und schwirrte es überall von streitbaren politischen Versen. 
Selbst Adolf Glaßbrenner, der Liebling und Erzieher des zungenfertigen 
demokratischen Berliner Kleinbürgertums, bestieg jetzt einmal das Flügel— 
roß. Sein neuer Reineke Fuchs spiegelte den Jesuitenhaß der nord— 
deutschen Lichtfreunde in burlesken Bildern und ausgelassenen Späßen 
wieder; doch über die feine Grenze, welche die Prosa von der Poesie, die 
grobe direkte Satire vom verklärenden Humor trennt, kam er nur selten 
hinaus. 
Unter den jungen Lyrikern war nur einer, der sich herausnahm, 
stolz, im Gefühle eines hohen künstlerischen Berufes, dem Radikalismus 
der Zeitpoeten und der Heinischen Frivolität zugleich entgegenzutreten: 
der Lübecker Emanuel Geibel. Aufgewachsen in der gesunden Luft eines 
frommen, hochgebildeten evangelischen Pfarrhauses, unter dem kräftigen 
Bürgertum und den großen historischen Erinnerungen seiner alten Hanse— 
stadt, stand er von frühan fest auf dem Boden des christlichen Glaubens: 
Mir quillt der Dichtung heil'ger Bronneng 
Am Felsen, der die Kirche trägt. 
Er hatte Italien durchwandert, mit seinem Freunde, dem Philologen 
Ernst Curtius auf den Inseln des Agäischen Meeres eine selige Zeit der 
Dichterwonne durchlebt, und noch lange nachher fiel es ihm schwer, die 
Flammenstrahlen der südlichen Sonne zu entbehren. Die reine Schön- 
heit, die er dort geatmet, den Formenadel seines Lieblings Platen 
wollte er der deutschen Lyrik durch ernste, keusche Dichtungen wieder 
bringen, im bewußten Gegensatze zu Heines spielender Formlosigkeit und 
zu der handgreiflichen Tendenz der politischen Dichter. Die Kritik wußte 
mit ihm zuerst nichts anzufangen; sie fällte das Urteil, das er selbst 
vorhergesagt: „und wer nicht mitschreit, heißt ein Knecht.“ Man nannte 
ihn den Poeten der Backfische, weil die Liebesgedichte seiner Jugend, ob- 
wohl allesamt erlebt in tiefem Seelenglück und Seelenleid, von senti- 
mentaler Weichheit nicht frei waren. Nachher kam doch die Zeit, da auch 
reise Männer sich an der getragenen Würde seiner gedankenreichen, form- 
vollendeten Terzinen und Sonette erfreuten. Die fortreißende Macht 
dramatischer Leidenschaft blieb ihm freilich ebenso versagt wie der Einblick 
in die tiefsten Abgründe des Seelenwesens. Fast zu gleicher Zeit versuchten 
sich Geibel und Heine an der Fabel vom Tannhäuser. Geibels Gedicht 
ward ein wohlabgerundetes kleines Kunstwerk, vom Anfang bis zum Ende 
durchklungen von demselben Tone warnender Wehmut, während Heine 
nach einem glücklichen Anfang sich den letzten Eindruck durch feuilleto- 
nistische Witzeleien selbst verdarb. Aber die Schauer der Wollust, die 
geheimnisvolle Macht der Weiberschönheit, die schon Vater Homer schreck-
	        
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