Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

400 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
daß die monumentale Malerei, die er immer für die wahrhaft deutsche 
Kunst erklärt hatte, in allen diesen Jahren nur noch einen hochbegabten 
Jünger fand: den Rheinländer Alfred Rethel, der sich ganz unabhängig, 
mehr durch Dürer und Holbein als durch moderne Meister belehrt, zum 
Historienmaler hohen Stils herangebildet hatte und in seinen Kartons 
zur Geschichte Karls des Großen, tiefsinnig wie Cornelius, aber ohne jede 
symbolische Zutat, einfach die Männer und die Waffen selber reden ließ. 
Die Majestät ruhiger Männerschönheit verstand Rethel ebenso lebendig 
darzustellen wie den teuflischen Reiz der Sünde. Nur der ausdrückliche 
Befehl des Königs ermöglichte ihm, diese herrlichen Bilder im Aachener 
Rathaussaale auszuführen; der Stadtrat der alten Karolingerstadt — 
zu solchem Wahnsinn hatte sich der kirchliche Haß seit dem rheinischen 
Bischofsstreite schon gesteigert — wollte die gegebene Zusage zurücknehmen, 
weil der mitten im alten „Reiche von Aachen“ geborene Künstler zufällig 
Protestant war, was man seinen Gemälden doch nirgends anmerkte. 
Mittlerweile zog einer der treuesten Schüler von Cornelius, Julius 
Schnorr von Carolsfeld aus München hinweg, nachdem er noch den Zyklus 
seiner Nibelungenbilder vollendet hatte — dann immer glücklich, wenn 
ihm der ewig drängende König Ludwig einmal erlaubte, die üblichen Gewohn- 
heiten der verrufenen Münchener Eilkunst zu verlassen und seine groß- 
gedachten Entwürfe gründlich durchzubilden. Da ihm jetzt, in der sächsischen 
Heimat kein monumentales Gemälde mehr aufgetragen wurde, so begann 
er an dem lang vorbereiteten Unternehmen zu arbeiten, das allein unter 
allen Werken der Cornelianer sich die Gunst des Volks erwerben, diese 
hocharistokratische Kunst dem Verständnis der Massen näher bringen sollte: 
an seiner „Bibel in Bildern“. Ganz durchdrungen von dem Schillerschen 
Gedanken der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts wollte er in 
kräftigen frischen Zügen dem Volke die heilige Weltgeschichte vor das Auge 
führen; der Holzschnitt galt ihm als ein Freskobild im kleinen, als eine 
Kunstform, die dem Zeichner erlaubte, sich an die großen Grundzüge der 
Handlung zu halten, und nach der Weise der alten Italiener gab er seinen 
heiligen Gestalten, den Realismus der malerischen Reisebeschreiber ver- 
schmähend, in Gewand und Gesicht den idealen, „urweltlichen“ Charakter, 
der sie nicht als Semiten, sondern als Träger allgemeingültiger, mensch- 
licher Empfindungen erscheinen ließ. So entstand in langen Jahren ein 
echtes Volksbuch, erhaben zugleich und gemeinverständlich, unverkennbar 
protestantisch und doch nach deutscher Art im Geiste des allgemeinen 
Christentums gehalten, das schönste Vermächtnis, das die alte idealistische 
Kunst in ihrem Niedergange noch unseren Mittelständen hinterlassen hat. 
Schwind, der dem alten Meister immer die Treue bewahrte, wußte 
doch als begeisterter Musiker sehr wohl, daß jeder nur singen kann, wie 
ihm der Schnabel gewachsen ist, und gestaltete sich aus den deutschen 
Märchen und Sagen seine eigene klassisch-romantische Bilderwelt. Auch
	        
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