Grimms Geschichte der deutschen Sprache. 421
des Tages, ein Schrecken für alle Reaktionäre; in der Entwicklung der deut—
schen Wissenschaft behauptet sie eine noch höhere Stelle.
Mit dem Zartsinne des liebevollen Freundes und doch sehr deutlich
äußerte Jakob Grimm seine Bedenken gegen diese moralisch-politische Härte,
die sogar in unserer alten Tierfabel mehr das sittliche Beispiel oder auch
die Satire suchte als das weichere epische Leben; am wenigsten verzieh er
dem Freunde die Ungerechtigkeit gegen Goethe, „der doch so gesungen hat,
daß ohne ihn wir uns nicht einmal recht als Deutsche fühlen könnten.“
Grimm selbst gehörte einem anderen Geschlechte an. Er hatte einst als Mar-
burger Student niemals eine Zeitung zu Gesicht bekommen und dann die po-
litische Begeisterung des Befreiungskampfes in warmem Herzen mitempfun-
den, doch sogleich nach den Kriegswirren sich zurückgewendet zur „stillen
Förderung des Volks“, zur friedlichen gelehrten Forschung. So taten die
Brüder auch jetzt wieder in ihrer neuen Berliner Freistätte; daß man sie
wegen der Tat der Göttinger Sieben als politische Helden feierte, war ihnen
selber lästig, sie hatten ja mur nach ihrem Gewissen, als eidestreue Männer
gehandelt. Wo auf deutscher Erde hätten die beiden sich auch nicht heimisch
fühlen sollen? Kinderhand ist leicht gefüllt; ihnen beiden blieb bis zum
Grabe neben der Kraft reichen Schaffens die schlichte Einfalt, die frohe
Dankbarkeit für jedes Glück des Lebens. Die roten Berge der hessischen
Heimat vermißten sie freilich mit Schmerzen; aber dicht vor ihrem Hause
rauschten die Wipfel der alten Bäume des Tiergartens; selbst an dem
Goldfischteiche des Parks hatte Wilhelm seine kindliche Freude, und als
er seiner Bettina das Märchenbuch von neuem zueignete, das er in jeder
Auflage reicher und sinniger ausgestaltete, da lobte er die alte Freundin
treuherzig, weil sie noch mit der Lust der ersten Jugend in den Kelch
einer einfachen Blume schauen konnte. An beiden erfüllte sich, was Jakob
seinem Neffen schrieb: „die, welche als Studenten toll und wild sind, pflegen
später im Leben zahm und matt zu werden, während denen, die eifrig
studieren, hernach auch die Kraft und die Freude nicht ausgeht.“ 7)
Gerade bevor die Revolution begann, brachte Jakob das vierte seiner
großen Werke noch unter Dach: die Geschichte der deutschen Sprache.
Hier suchte er sich zu verständigen mit der vergleichenden Sprachwissen-
schaft, die einst durch ihn selber mitbegründet, im Laufe der Jahre stark
und selbständig aufgewachsen war. Er betrachtete das Verhältnis zwischen
den Sprachen der zehn Urvölker, die er in Europa annahm, sodann die
engere Verwandtschaft von Goten, Hochdeutschen, Niederdeutschen, Skan-
dinaviern, „die sich, je höher man zurücksteigt, desto ähnlicher werden
und alle gleichen Ursprungs sind.“ Mit tiefem Ernst, wie der Wächter
eines nationalen Schatzes, hielt er seinen Landsleuten vor, was die
Sprache auch für die Macht der Bölker bedeutet, denn wie unvergleichlich
*) Jakob Grimm an Rudolf Grimm, 18. Nov. 1848.