424 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
gar zu dem trostlosen Unsinn gelangte: der Mensch ist, was er ißt. Feuer-
bachs edle Natur konnte einen idealistischen Zug niemals ganz verleugnen;
er glaubte noch an eine Sittlichkeit, die den fremden Glückseligkeitstrieb
mit dem eigenen vereinbaren sollte. Im Norden aber trieben allerlei
Starkgeister ihre Marktschreierei, zuchtlose junge Leute, die nur den einen
Ehrgeiz hegten, immer noch „weiter zu gehen“. Max Stirners Schrift
„der einzige und sein Eigentum“ zertrümmerte Geist und Menschheit,
Recht und Staat, Wahrheit und Tugend als Götzenbilder der Gedanken-
knechtschaft und bekannte frei: „Mir geht nichts über Mich.“ Eine Sekte
von Egoisten tat sich auf, die den Berliner Freien nahe stand; sie feierte
ihre Gelage in der Kellergesellschaft zu Köthen und sandte, als die Re-
volution ausbrach, ihre Getreuen auf die Barrikaden. Angesichts dieser
allgemeinen Anarchie und Zersetzung erkannten die ernsten wissenschaft-
lichen Köpfe unter den Philosophen, daß die Zeit für neue Systeme noch
nicht gekommen war; Ritter, Zeller und andere tüchtige Gelehrte begannen
die Geschichte der Philosophie gründlich auszubauen, denn die verwilderte
Spekulation bedurfte zunächst der Selbstbesinnung.
Die Nation war der Philosophie bis zum Ekel satt. Ihre gesamte
Weltanschauung begann sich zu ändern, seit auch Deutschland mit der
ganzen Kraft seines Genius eintrat in die große Bewegung, welche mit
einem Male die Naturwissenschaften von Sieg zu Sieg führte. Wie weit
waren sie doch, alle die Jahrtausende hindurch, zurückgeblieben hinter dem
Reichtum der Geisteswissenschaften; wie kindlich unwissend standen die Alten
vor der Natur, sie, die in Dichtung, Beredsamkeit, Philosophie, Geschicht-
schreibung Unerreichbares schufen. Ein Grund dieser auffälligen Erschei-
nung liegt in äußeren Verhältnissen. Wissenschaftlich genaue Beobachtung
der Natur setzt einen hohen Stand der Technik voraus, der wieder nur
das Ergebnis einer langen Geschichte sein kann; wie viele Jahrhunderte
lang mußte die menschliche Kunstfertigkeit arbeiten, bis auch nur das
einfache Instrument möglich wurde, mit dem wir die Wärme der Luft
messen. Ein anderer Grund liegt tiefer, er liegt in der idealistischen Be-
gabung des Menschengeschlechts. Alle Wissenschaften entstehen ursprüng-
lich um des Nutzens willen, Erfahrungen und Geheimlehren werden von
den Barbaren aufbewahrt, um den Zwecken des praktischen Lebens zu dienen;
in bildsamen Völkern erwacht jedoch sehr früh der von Aristoteles verherr-
lichte selbständige theoretische Trieb, der das Erkennen um des Erkennens
willen sucht, und sobald er erwacht, wendet er sich immer zunächst der
idealen Welt der Geisteswissenschaften zu. Wie alle edlen Völker früher
Tempel bauen als stattliche Wohnhäuser, früher die hohe Kunst pflegen
als die Kleinkunst für das tägliche Behagen, so verlangen sie auch immer
zuerst, sich Rechenschaft zu geben über ihre Geschichte, ihr Recht, ihre
Sprache, über die letzten Gründe alles Erkennens, bevor sie sich ernstlich
an die Erforschung der Naturgesetze wagen. Diesen idealistischen Zug des