426 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
in den Revolutionsjahren die Majestät des Staatsgedankens sich jedem
wieder unwiderstehlich aufdrängte. Man redete leichthin von der Be-
herrschung der Natur durch den Menschen, während doch der schwache
Sterbliche sich begnügen muß, einzelne Kräfte der Natur, indem er sich
ihren erkannten Gesetzen fügt, für seine Zwecke zu benutzen. Man rühmte
sich, den Raum besiegt zu haben, obgleich dieser Sieg noch recht be-
scheiden blieb: die Schnelligkeit des Rosses hatte der Mensch endlich
übertroffen, allein jeder Hecht und jede Schwalbe beschämte ihn noch.
Man sprach von den Fortschritten der Technik und der Erleichterung des
Verkehrs, als ob sie selber die Kultur ausmachten, während sie doch nur
die Mittel darbieten zur Förderung der Kultur; denn die unbestechliche
Nachwelt wird dereinst nicht fragen, wie schnell wir uns Briefe senden
konnten, sie wird fragen, ob wir uns große menschliche Gedanken mitzu-
teilen wußten; sie wird auch nicht aufhören, neben dem Maßstabe der
Nützlichkeit auch den Maßstab des Schönen und des Guten an die viel-
gestaltige Geschichte anzulegen, und darum gewiß nicht das törichte Urteil
fällen, daß eine hell leuchtende, aber geschmacklose moderne Gaskrone ein
edleres Menschenwerk sei als eine schlecht brennende, aber schöne pompe-
janische Lampe.
Die Naturwissenschaft errang in der Forschung so große Erfolge
und griff so mächtig in das praktische Leben ein, daß sie jetzt schon
mit gutem Fug vom Staate eine gleichberechtigte Stellung neben den
Geisteswissenschaften verlangen konnte; noch war ja alles erst im Wer-
den, ein öffentliches physikalisches Laboratorium bestand noch nirgends,
nur in Berlin hatte Magnus aus eigenen Mitteln schon eine solche An-
stalt errichtet, die er den jungen Leuten hochherzig zur Benutzung ein-
räumte. Doch in dem emsigen Getriebe der neuen Volkswirtschaft wuchs
auch rasch ein Geschlecht von Nützlichkeitsfanatikern und Allerwelts-Fort-
schrittsmännern empor, ein dem stillen alten Deutschland ganz unbekannter
Menschenschlag, den die Münchener Künstler in ihren Maskenzügen und
Witzblättern unter dem Bilde des Mister Vorwärts verspotteten. Diese
Leute kannten England oder Amerika, sie beteiligten sich an allen den
neuen, oft noch sehr schwindelhaften Eisenbahngesellschaften und Fabrik-
unternehmungen, sie schätzten nur, was sich zählen, messen und wägen
ließ. In diesen Kreisen zuerst ward der Ruf erhoben, den die unwissen-
den Zeitungsschreiber gefällig wiederholten: die naturwissenschaftliche Bil-
dung müsse zur allgemeinen Bildung werden und die sprachlich-historische
Bildung, von der sich seit Jahrtausenden alle Kulturvölker ohne Aus-
nahme genährt hatten, kurzerhand entthronen. Ahnliche Forderungen
waren schon mehrmals in der Geschichte ausgesprochen worden: immer
in Zeiten, da Staat und Sitte verfielen, im Altertum vornehmlich von
den Epikureern, den Vertretern der politischen und sittlichen Ruheseligkeit,
dann wieder im siebzehnten Jahrhundert; immer mit geringem Erfolge,