Liebigs Agrikulturchemie. 129
Drange nach allseitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beseelt hatte,
und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen
Selbsttäuschungen die neue Zeit schon zu entwachsen begann. Die hand—
festen jungen Historiker konnten dem freundlichen Greise doch unmöglich
beistimmen, wenn er die Rousseausche Behauptung aufstellte: „die Natur
ist das Reich der Freiheit“ — oder wenn er aus der scharfsinnig erwie—
senen Einheit des Menschengeschlechts sanft den Schluß zog: „es gibt
bildsamere, höher gebildete, durch geistige Kultur veredelte, aber keine
edleren Volksstämme; alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt.“ Und
doch war dies Buch, das so lebhaft an die Zeiten Herders und Goethes
gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um-
fassende Enzyklopädie alles dessen, was die empirische Naturerkenntnis bis-
her erforscht hatte. Begeisterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied
der neuen Wissenschaft und sprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander
Humboldts. Die vereinzelten Stimmen besorgter Theologen, die vor dem
unheiligen Geiste des Buches warnten, beirrten selbst den frommen König
nicht und verstummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das
gesamte Europa fühlte, daß ein solches Buch nur einmal, und nur von
einem Manne gewagt werden konnte. ·
Doch derweil Humboldt schrieb, verwandelte sich die Welt bereits
wieder, und das so lange geplante Werk stand, als es endlich erschien,
schon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiste der Zeit. Die jungen
Naturforscher raunten einander schon oft abschätzige, ungerechte Urteile über
den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen,
daß er für ihre Wissenschaft so wenig Sinn zeigte. Diese jugendlichen
Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beschreibungen noch nach
historischen Rückblicken; sie verlangten Taten, Entdeckungen, Fünde, immer
neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm.
Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent—
deckung hervor, welche die Landwirtschaft aller Kulturvölker umgestalten
sollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen.
Liebig begründete die Lehre vom organischen Stoffwechsel und wendete sie
an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachsende Pflanze
der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich sein
müsse, durch natürlichen oder künstlichen Dünger dem Boden die entzogenen
Stoffe vollständig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einst der Raubbau
der alten Völker die schönsten Länder der Erde verwüstet; jetzt eröffnete
sich die tröstliche Aussicht, daß die Bodenkraft der modernen Kulturländer
bei rationellem Ackerbau allezeit unerschöpflich bleiben würde. Nach lang-
jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen
vollständigen Sieg. Stöckhardts chemische Feldpredigten und andere popu-
lärc Schriften verbreiteten sie in weiten Kreisen; der künstliche Dünger,
den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-