Sechster Abschnitt.
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Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
Die neue Weltanschauung, die sich in Kunst und Wissenschaft so
lebhaft bekundete, wurde, bewußt oder unbewußt, durch die großen Wand-
lungen des wirtschaftlichen Lebens mit bedingt. Kein Zeitraum der
deutschen Geschichte bietet dem Nationalökonomen ein so wechselreiches Bild
wie dies neunzehnte Jahrhundert, das in beispiellos rascher Folge zwei
gewaltige Umwälzungen der volkswirtschaftlichen Zustände und Partei-
gegensätze erlebte. Vor einem Menschenalter erst hatte in Preußen eine
friedliche Revolution von oben her die feudalen Fesseln der alten Gesell-
schaft zersprengt; damals glaubten fast alle hellen Köpfe der Nation, mit
dem freien Wettbewerb der wirtschaftlichen Kräfte, mit dem unbeschränkten
Eigentum und der ungestörten Arbeit jedes einzelnen sei der soziale
Frieden und Fortschritt für alle Zukunft gesichert. Noch war die neuc
wirtschaftliche Freiheit bei weitem nicht überall in Deutschland zum
Siege gelangt; Gewerbsbetrieb, Heirat, Niederlassung unterlagen in den
meisten Kleinstaaten noch ängstlichen Beschränkungen, welche Preußen nicht
mehr kannte. Da begann schon in den vierziger Jahren eine Gegen-
bewegung; sie wuchs langsam an, unter starken Rückschlägen, und erst nach
langen Jahren, als die Deutschen sich ihren nationalen Staat geschaffen
hatten, errang sie Erfolge. Wenn die Urheber des preußischen Zoll-
gesetzes unschuldig gehofft hatten, der mäßige deutsche Zollschutz und das
ehrliche Anerbieten der Gegenseitigkeit würden genügen, um nach und nach
den ganzen Weltteil der allgemeinen Handelsfreiheit anzunähern, so er-
wies sich diese Erwartung jetzt schon als irrig; der Zollverein geriet bald
in schwere wirtschaftliche Machtkämpfe mit Völkern von älterem Reich-
tum und stärkerem Selbstgefühl, und aus dem Lager seines jungen Ge-
werbfleißes erklang, hier mit Recht, dort mit Unrecht der Ruf nach Schutz
der nationalen Arbeit. Im Innern aber rief der freie Wettbewerb nicht
die erhoffte gerechte Gesellschaftsordnung hervor, sondern neue gehässige
Klassenkämpfe; das bewegliche Großkapital begann eine gefährliche Über-
macht zu erlangen, breite Massen des rechtlich befreiten Volks versanken
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 28