454 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft.
sie jedem leihen, der gut zahlt. Man gebe ihm Geld und zwar viel, so
wird es ihm ziemlich gleichgültig sein, ob er Eisenbahnen oder Kolonien
in Osterreich oder Preußen zu verwalten habe.“*) Kühne selbst wahrte
seine Amtswürde und antwortete in der Staatszeitung nur auf die sach-
lichen, nie auf die persönlichen Angriffe des süddeutschen Agitators. Um
so heftiger äußerte er sich mündlich über „die Absurdität und Schlechtig-
keit“ des Schwaben, über das tolle Treiben der „völlig verrückten Listschen
Sünder“. Er begriff nicht, daß Lists Buch ganz neue, fruchtbare Ge-
danken enthielt, er sah darin nur die Wiederholung alter Irrtümer und
fand es „rätselhaft, wie dies so ganz hohle und verbrauchte Merkantil-
system wieder aufleben konnte.“7)
In Norddeutschland stimmte wohl die große Mehrzahl diesem verständ-
nislosen Urteile zu. Hier wurde Lists Lehre fast allein von den Eisen-
werksbesitzern Westfalens und einem Teile der schlesischen Fabrikanten
willkommen geheißen. Die meisten der altbefestigten Fabriken sahen sich
durch die bestehenden Zölle genugsam geschützt; die Handelsplätze vollends
und die ackerbauenden Provinzen verlangten nach Freihandel. Während
im Süden die schutzzöllnerische Gesinnung für freisinnig galt, herrschte
im Nordosten, zumal in Altpreußen, die genau entgegengesetzte Meinung:
wer ein fester Liberaler war und die befreiende soziale Gesetzgebung der
Stein-Hardenbergischen Tage hochhielt, mußte auch den freien Handel
fordern. Selbst der Landadel stimmte in der Wirtschaftspolitik mit seinen
alten Gegnern, den Geheimen Räten überein; für seine Bodenfrüchte
hatte er ja keinen erdrückenden fremden Wettbewerb zu fürchten, darum
wünschte er Erleichterung der Konsumtion, vor allem wohlfeile Maschinen,
um dic noch tief daniederliegende landwirtschaftliche Technik zu ver-
bessern. Der halbwahre, in vielen Fällen falsche Satz, daß der Konsu-
ment allein den ganzen Schutzzoll bezahlen müsse, wurde noch allgemein
geglaubt, und niemand fragte, warum denn die englischen Produzenten
so gar ängstlich vor jeder Erhöhung der deutschen Garn= und Eisenzölle
warnten. Vergeblich rechnete Fritz Harkort, der Volksmann Westfalens,
den Grundbesitzern vor: der Pächter einer westfälischen Domäne von
1000 Morgen brauche im Jahre etwa 24 Ztr. Stabeisen und 1 Ztr. Stahl,
er zahle mithin für jeden Morgen schlimmsten Falles 1 Sgr. Zoll und
könne folglich durch eine mäßige Erhöhung der Eisenzölle nicht schwer ge-
troffen werden. Erst in einer weit späteren Zeit, als der Ackerbau sich
selbst durch die Getreideeinfuhr anderer Völker bedroht sah, begannen die
Landwirte zu erkennen, daß in der Tat alle Zweige der nationalen Er-
werbstätigkeit, trotz der Reibungen daheim, dem Auslande gegenüber eine
lebendige Interessengemeinschaft bilden, wie List immer behauptet hatte.
*) Canitz, Bemerkungen zu Bunsens Bericht vom 31. Juli 1846.
**) Nach Kühnes Denkwürdigkeiten.