Die liberale Türkei. 69
schwall reich ausgestattete Urkunde, welche allen Untertanen des Sultans
Sicherheit von Leib und Habe, Aufhebung der Steuerpacht, gerechte Ver—
teilung der Abgaben und des Kriegsdienstes verhieß. Darauf beschwor
der Sultan nebst den hohen Beamten seinen Gnadenerlaß, der natürlich
niemals ausgeführt wurde, und die Batterien auf beiden Ufern des Bos-
porus donnerten ihren Festgruß.
Der Hattischerif eröffnete die lange Reihe jener „mit Honig beschrie-
benen Papiere“, welche die klugen Moslemin fortan von Zeit zu Zeit
den unbeschreiblich verachteten Franken vorzuhalten pflegten. Wunderbar
schnell, mit orientalischer Findigkeit lebte der Diwan sich in neue politische
Künste ein; er spielte fortan die liberale Macht und wußte bald durch
die dienstwilligen Federn der befreundeten Gesandtschaften in Pera, bald
durch einfache Bestechung die europäische Presse dermaßen zu beherrschen,
daß die einst im Portfolio angeschlagenen Töne überall mächtig wieder-
klangen. Schon seit dem Altertum waren die Stämme am Bosporus um
ihrer Ruchlosigkeit willen verrufen. Hier lag Lesbos, die Heimat der un-
natürlichen Wollust, hier Lampsakos, wo Aphrodite den schamlosesten ihrer
Söhne, den Priapus gebar, hier die große Polis, wo der Auswurf dreier
Weltteile stinkend zusammenrann, und mitteninne das barbarisch geschändete
schönste Gotteshaus der morgenländischen Christenheit. In diesen Ländern,
wo Menschenleben wenig, Menschenwürde nichts gilt, wo die Natur alle
ihre Reize, die hellenischen, die byzantinischen, die orientalischen Völker
ebenso verschwenderisch alle ihre Niedertracht entfaltet haben, wähnte die
Presse des Abendlandes eine Heimstätte der Freiheit zu sehen; mit Aus-
nahme der französischen verherrlichten jetzt alle europäischen Blätter den
liberalen Sultan mitsamt seinem Hofastrologen. Der Agypter aber, der
seine Leute kannte, sagte ingrimmig: dieser Hattischerif sei nichts weiter
als ein gegen ihn gerichteter Schachzug.
Mittlerweile vollzog Rußland eine längst vorbereitete diplomatische
Schwenkung. Nikolaus hatte gleich nach seiner Thronbesteigung die Er-
fahrung gemacht, daß er seine Zwecke im Oriente dann am sichersten
erreichen konnte, wenn er sich mit dem gefährlichsten Gegner, mit England
scheinbar verständigte.“') Persönlich hegte er, soweit ein Zar dies ver-
mochte, fast eine Vorliebe für die Briten; während der letzten Jahre
hatte er sich stets absichtlich gehütet, die revolutionäre Politik Palmerstons
zu bemerken. Dies England mit Frankreich zu verfeinden, das herzliche
Einvernehmen der Westmächte zu zerstören, den alten Vierbund der kon-
servativen Mächte wiederherzustellen und also den verhaßten Staat der
Revolution gänzlich zu vereinzeln, bis vielleicht der große Kreuzzug der
Legitimität möglich würde — dahin gingen von langeher die Münsche
des Zaren. Der Vertrag von Hunkiar-Iskelessi lief binnen kurzem ab;
*) S. o. III 729.