Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Die liberale Türkei. 69 
schwall reich ausgestattete Urkunde, welche allen Untertanen des Sultans 
Sicherheit von Leib und Habe, Aufhebung der Steuerpacht, gerechte Ver— 
teilung der Abgaben und des Kriegsdienstes verhieß. Darauf beschwor 
der Sultan nebst den hohen Beamten seinen Gnadenerlaß, der natürlich 
niemals ausgeführt wurde, und die Batterien auf beiden Ufern des Bos- 
porus donnerten ihren Festgruß. 
Der Hattischerif eröffnete die lange Reihe jener „mit Honig beschrie- 
benen Papiere“, welche die klugen Moslemin fortan von Zeit zu Zeit 
den unbeschreiblich verachteten Franken vorzuhalten pflegten. Wunderbar 
schnell, mit orientalischer Findigkeit lebte der Diwan sich in neue politische 
Künste ein; er spielte fortan die liberale Macht und wußte bald durch 
die dienstwilligen Federn der befreundeten Gesandtschaften in Pera, bald 
durch einfache Bestechung die europäische Presse dermaßen zu beherrschen, 
daß die einst im Portfolio angeschlagenen Töne überall mächtig wieder- 
klangen. Schon seit dem Altertum waren die Stämme am Bosporus um 
ihrer Ruchlosigkeit willen verrufen. Hier lag Lesbos, die Heimat der un- 
natürlichen Wollust, hier Lampsakos, wo Aphrodite den schamlosesten ihrer 
Söhne, den Priapus gebar, hier die große Polis, wo der Auswurf dreier 
Weltteile stinkend zusammenrann, und mitteninne das barbarisch geschändete 
schönste Gotteshaus der morgenländischen Christenheit. In diesen Ländern, 
wo Menschenleben wenig, Menschenwürde nichts gilt, wo die Natur alle 
ihre Reize, die hellenischen, die byzantinischen, die orientalischen Völker 
ebenso verschwenderisch alle ihre Niedertracht entfaltet haben, wähnte die 
Presse des Abendlandes eine Heimstätte der Freiheit zu sehen; mit Aus- 
nahme der französischen verherrlichten jetzt alle europäischen Blätter den 
liberalen Sultan mitsamt seinem Hofastrologen. Der Agypter aber, der 
seine Leute kannte, sagte ingrimmig: dieser Hattischerif sei nichts weiter 
als ein gegen ihn gerichteter Schachzug. 
Mittlerweile vollzog Rußland eine längst vorbereitete diplomatische 
Schwenkung. Nikolaus hatte gleich nach seiner Thronbesteigung die Er- 
fahrung gemacht, daß er seine Zwecke im Oriente dann am sichersten 
erreichen konnte, wenn er sich mit dem gefährlichsten Gegner, mit England 
scheinbar verständigte.“') Persönlich hegte er, soweit ein Zar dies ver- 
mochte, fast eine Vorliebe für die Briten; während der letzten Jahre 
hatte er sich stets absichtlich gehütet, die revolutionäre Politik Palmerstons 
zu bemerken. Dies England mit Frankreich zu verfeinden, das herzliche 
Einvernehmen der Westmächte zu zerstören, den alten Vierbund der kon- 
servativen Mächte wiederherzustellen und also den verhaßten Staat der 
Revolution gänzlich zu vereinzeln, bis vielleicht der große Kreuzzug der 
Legitimität möglich würde — dahin gingen von langeher die Münsche 
des Zaren. Der Vertrag von Hunkiar-Iskelessi lief binnen kurzem ab; 
  
*) S. o. III 729.
	        
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