78 V. 2. Die Kriegsgefahr.
schwenglichen Beinamen des Londoner Quadrupel-Allianz-Vertrags erhielt.
Der Sultan versprach, dem Pascha die erbliche Verwaltung Agyptens
und für Lebenszeit das Paschalik Akkon zu überlassen; die vier Mächte
verpflichteten sich, Mehemed Ali gemeinsam zur Annahme zu bewegen, und
„behielten sich vor, zu diesem Zwecke zusammenzuwirken nach dem Maße der
Machtmittel (moyens d'action), worüber jede von ihnen verfügen kann.“
Diese letzte Klausel hatte Bülow durchgesetzt, um nötigenfalls erklären zu
können, daß Preußen gegen den Agypter überhaupt keine moyens d'action,
außer der moralischen Unterstützung, besitze. Zunächst dachten England und
Osterreich mit ihren Flotten einzuschreiten; rückten die Agypter durch
Kleinasien vor, dann wollten die vier Mächte sich noch verabreden wegen
gemeinsamer Sicherung Konstantinopels zu Lande und zur See. In Zu-
kunft aber sollten beide Meerengen, Bosporus und Dardanellen, zu
Friedenszeiten allen Nationen verschlossen bleiben. Damit gab der Zar
den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi auf. Dieser großmütige Verzicht be-
deutete freilich wenig; denn der Vertrag ging ohnehin zu Ende, Rußland
aber blieb auch jetzt noch der Beherrscher des Pontus und, nach seiner
geographischen Stellung, der nächstberufene Beschützer Stambuls. Da
Gefahr im Verzuge war, so nahmen die Gesandten, wie Bülow geraten
hatte, alles auf ihren Kopf und verabredeten, ohne die Ratifikation ab-
zuwarten, die sofortige Absendung der englisch-österreichischen Flotte.
In Berlin erregten diese Nachrichten zugleich Freude und Besorgnis.
Unzweifelhaft hatte Bülow seine Instruktionen eigenmächtig übertreten, ob-
gleich er allerdings im Augenblicke des Abschlusses die beiden neuesten Wei-
sungen noch nicht besaß, welche ihm ausdrücklich anbefahlen, einen Vierer-
Vertrag nicht eher zu unterzeichnen, als bis die drei anderen Mächte die
Neutralität Preußens für den Kriegsfall förmlich anerkannt hätten.“)
Dem preußischen Hofe standen jetzt zwei Wege offen. Er mußte entweder
den ungehorsamen Gesandten abrufen und die Ratifikation verweigern
oder, wenn er das Geschehene billigte, den Vertrag kurzweg genehmigen
und dessen gefährliche Folgen mutig auf sich nehmen. Einem stolzen
Staate stand es wahrlich übel an, zuerst die anderen Mächte zu kühnen
Taten zu ermuntern und dann sich selber für neutral zu erklären. Gleich-
wohl glaubte der neue König diesen dritten Weg gehen zu können. Schon
bei dieser ersten an ihn herantretenden großen Aufgabe europäischer Politik
zeigte sich seine verhängnisvolle Vorliebe für unhaltbare diplomatische Stel-
lungen, für alles, was vom schlichten Menschenverstande abwich. Er wollte
Bülows eigenmächtige Schritte billigen; denn er hielt es für seine könig-
liche Pflicht, den legitimen Sultan im Kampfe gegen den revolutionären
Agypter zu unterstützen, und mit Freuden begrüßte er die Versöhnung
seines geliebten Englands mit den Ostmächten. Bei dieser diplomatischen
*) Werther, Weisungen an Bülow, 16. 18. Juli 1840.