Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

— V. 2. Die Kriegsgefahr. 
Das Protokoll sagte in seiner dehnbaren Fassung sehr wenig; denn führte 
der Londoner Vertrag zu einem europäischen Kriege, so konnte Preußen sich 
dem Streite unmöglich entziehen. Unvergeßlich aber blieb die traurige Er- 
fahrung, daß der Staat, der die verwegensten Ratschläge gab, sich im 
Handeln unter allen am kleinmütigsten zeigte. — 
  
Durch den Juli-Vertrag wurde der ägyptische Streit zu einer euro- 
päischen Frage, und mit einem Male sah sich Preußen, dem diese orien- 
talischen Händel so fern lagen, in die vorderste Reihe der Streitenden 
geschoben. Mit der einzigen Ausnahme Rußlands beabsichtigte keine der 
vier Mächte den französischen Stolz irgend zu kränken. Sie alle meinten, 
ihr eigenmächtiges Verfahren sei durch die beständig ausweichende, zuwar- 
tende Haltung der französischen Diplomatie vollauf gerechtfertigt; hatte 
doch Guizot in den letzten Tagen, als Palmerston ihn fragte, ob Frank- 
reich nicht mindestens die gänzliche Losreißung Agyptens verhindern wolle, 
nur achselzuckend geantwortet: alors comme alors! 7) Sie alle glaubten, 
wie Bülow sagte, Thiers würde gute Miene zum bösen Spiele machen, mit 
Anstand zurückweichen und sich wohl hüten, im Bunde mit dem ägyptischen 
Rebellen der offenbaren Übermacht zu trotzen.“) An dem nämlichen Tage, 
da der Vertrag unterzeichnet wurde, schrieb Palmerston mit ungewohnter 
Höflichkeit an Guizot: die vier Mächte hätten sich nur mit tiefem Bedauern, 
nur um doch etwas zu stande zu bringen, von Frankreich getrennt; sie hoff- 
ten, diese Trennung würde nur von kurzer Dauer sein und den Gefühlen 
aufrichtiger Freundschaft keinen Eintrag tunz sie hofften sogar, Frank- 
reich würde seinen großen Einfluß in Alexandria benutzen, um ihnen seinen 
moralischen Beistand zu leihen und Mehemed Ali zur Nachgiebigkeit zu 
bewegen.*57) Noch friedfertiger redete Preußen. Bülow schrieb nach Paris: 
„wir mußten uns der Form nach von Frankreich trennen, hoffen aber in 
der Sache selbst auf dessen hilfreiche Mitwirkung;“ und Minister Werther 
schlug vor, man möge den Tuilerienhof noch vor der Ratifikation des 
Vertrags zum Beitritt einladen, damit jeder Schein eines Zerwürfnisses 
vermieden würde.f) Der österreichische Staatskanzler hegte allerdings 
einen tiefen Haß gegen Thiers, „die wahre Verkörperung der Revolution 
von 1830.“ In seinen vertrauten Briefen schalt er maßlos auf „diese 
in jeder Hinsicht elende Persönlichkeit“, die alle schlechten Leidenschaften 
der Franzosen wachrufe und wie ein Trinker sich nur durch Branntwein 
stärken könne. Er sagte mit boshaftem Wortspiele: dieser Nichtswürdige 
wolle der Napoleon der Juli-Revolution werden und sie wie ein Tertian= 
  
*) Palmerston, Memorandum über seine Gespräche mit Guizot, 18—20. Juli 1840. 
*r) Bülow an Maltzan, 9. Juli 1840. 
**) Palmerston an Guizot, 15. Juli; Bülows Bericht 31. Juli 1840. 
1) Bülow an Arnim, 21. Juli; Werther an Bülow, 4. Aug. 1840.
	        
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