— 97 —
eines Volkes, eines Volkes, nicht nur Organisation mehrerer geson-
derter Volkseinheiten. Das deutsche Volk als Einheit wird im deut-
schen Reichstage repräsentirt, dessen Glieder sind „Vertreter“ des
ganzen deutschen Volkes, durch sie nimmt dieses an der Bildung
des Reichswillens Antheil. Dieses Volk ist sesshaft auf einem ein-
heitlichen Gebiete, dem Reichsgebiete. Es ist verfassungsmässig or-
ganisirt zu einer willensmächtigen Einheit, einer Persönlichkeit.
Diese ist berufen zur Erfüllung aller Gemeinzwecke, berufen zur
Sicherung des Reichsgebiets, zum Schutze des in diesem geltenden
Rechts, zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes'): in diesen
Zwecken erschöpft sich der gesamte Kreis der Zwecke des modernen
Staates. Das Reich ist ausgestattet mit einer eigenen, zur Durch-
führung seiner Zwecke fähigen Gewalt, es ist Subjekt eigener Herr-
schaftsrechte. Es ist ideell mächtig zur Erweiterung seiner Zwecke,
zur Bestimmung seiner Kompetenz: es setzt sich selbst den Umfang
seiner Aufgaben. Es ist allein verpflichtbar durch seinen eigenen
Willen: das Reich ist souveräner Staat. Es ist nicht Bund, nicht
blosses Rechtsverhältniss, es ist Persönlichkeit, Rechtssubjekt, Staat.?)
Das Reich als Staat ist aber nicht Einheitsstaat, es ist Bundes-
staat, besteht aus Staaten. Die fünfundzwanzig Gliedstaaten sind in
ihrer Zusammenfassung im Reiche zur Einheit zusammengeschlossen,
sie sind aber in dieser Einheit nicht so weit aufgegangen, dass sie
ihre staatliche Existenz verloren hätten. Wie das Reich sind sie
1) Vgl. den Eingang zur Reichsverfassung.
2).Diese Anschauung kann als die herrschende bezeichnet werden. Die
einschlägige Litteratur s. bei G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts
8. 169, Note 2. Den dort Citirten sind noch hinzuzufügen: Lapann in Marquard-
sens Handbuch II. 1. S. 15ff.; Gareıs, ebenda I. 1. S. 109ff.; ScuuLze, Preuss.
Staatsrecht II. (2. Aufl.) S. 581ff.; Haener, Deutsches Staatsrecht I. S.793ff. Im
Gegensatz hierzu ist die Staatsnatur des Reichs geleugnet und seine Zugehörigkeit
zu den Staatenbünden behauptet worden insbes. von SEYDEL in der Zeitschr. f.d.
ges. Staatswissensch. XXVIII. S. 185ff., Commentar zur RV. S. XV]. 8. 3ff.,
Bayrisches Staatsrecht I. S.509 ff. SEYDEL verwirft den Bundesstaatsbegriff prin-
zipiell: vgl. auch Hirths Annalen (1876) S. 641 ff. Gegen ihn am besten HaEneEL,
Studien I, namentlich S. 51ff. S. 68ff. und Hirths Annalen (1877) S. 78ff. — Ueber
HiERSEMENZEL und v. TREITSCHKE vgl. MEYER a.a.0. Fernere Citate bei Brıe a.a.O.
8.99, Note1. — Trıiers, Das deutsche Reich und die deutschen Bundesstaaten S. 101 ff.
nennt das Reich einen Bundesstaat, lässt aber dessen Gegensatz zum Staatenbunde
verschwimmen, da nach seiner eigentbümlichen Theorie (S. 53 ff.) Staatenbund und
Bundesstaat beides Erscheinungsformen derselben Staatenverbindung sind, die
durch einen dinglichen Vertrag unter Uebertragung einzelner Hoheitsrechte auf
eine neue Staatsgewalt entstanden ist.
TRIEPEL, Interregnum. 1