mich niemals eine vorherrschende Bedeutung gehabt haben. Ich bin
dadurch in die Lage versetzt worden, mit voller Objektivität an die
kirchlichen und religiösen Fragen beider Bekenntnisse, die wir in
Deutschland haben, heranzutreten, Polemik in der Religion ist mir stets
fremd geblieben, und ein Begriff wie das selbstherrliche „Orthodox“
mir bis auf den heutigen Tag ein Greuel. Gür den künftigen Herrscher
war das wohl das einzig richtige Prinzip der religiösen Erziehung.
Ein warmes Herz besaß Hinzpeter für die soziale Frage, die da-
mals noch so gut wie unbeachtet war. Es hing das zusammen mit
seiner hohen Auffassung vom Christentum, das ihm in schönstem Sinne
die Lehre von der werktätigen Nächstenliebe war. Zudem hatte er
als Sohn der roten Erde ausgiebig Gelegenheit gehabt, die Arbeiter-
frage in der dortigen Industrie kennen zu lernen. Jeden Mittwoch
und Sonnabend Nachmittag, wenn schulfrei war, ging er mit mei-
nem Bruder Heinrich und mir in Fabriken und Werkstätten, in eine
Schmiede, eine Gießerei oder sonst einen Produktionsbetrieb. Hier
wurde uns alles gezeigt, was von Bedeutung war, und es waren
dabei zwei Seiten, die Hinzpeter pflegte: einmal mußten wir den
Entstehungsprozeß kennen und verstehen, zum andern die sozkale Frage
erfassen lernen. Als bezeichnenden Zug für Hinzpeters soziale Ein-
stellung will ich erwähnen, daß wir nach sedesmaligem Besuch einer
Werkstatt an den betreffenden Meister herantreten, den Hut abnehmen
und in gezkemenden Worten unseren Dank abstatten mußten. Wir
gewannen Achtung vor der Leistung des Handarbeiters, sahen, unter
welchen Bedingungen er seine Tätigkeit ausübte, wie ihn Gefahr
und Tod umlauerten, wie die damals noch zwölfstündige Arbeitszeit
mit ihrem kärglichen Lohn sein ganzes Leben auffraß und ihm keine
Zeit ließ, Mensch unter Menschen zu sein. Wir sahen die traurigen
Wohnverhältnisse der Arbeiter und ihrer Gamilien, die oft in großem
Elend hausten. Aber das schlimmste, was wir sahen, war die ent-
seelende Macht der Maschine, die den Arbeiter zum kleinen Rädchen
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