Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 75 
  
zur Unterstützung des Zentrums gegen die Sozialdemokratie aufgefordert. Seitdem 
habe ich oft gehört, dies sei ein Fehler gewesen, ich hätte dadurch selbst die Hand dazu 
geboten, daß mir später eine Mehrheit von Konservativen und Zentrum das Regieren 
erschwerte. Es ist auch heute noch meine Ansicht, daß ich damals richtig gehandelt habe. 
Einerseits hatte ich nicht die Absicht, das Zentrum dauernd auszuschalten, andererseits 
kam für mich eine Unterstützung durch die Sozialdemokratie nicht in Frage. 
Das Zentrum ist die starke Bastion, die sich der katholische Teil dhes 
deutschen Volkes geschaffen hat, um sich gegen Ubergriffe von seiten 
der protestantischen Mehrheit zu schützen. Die Vorgeschichte des Zentrums ließe sich 
weit zurückverfolgen, bis in die Zeit, wo im alten Reich dem Corpus evangelicorum das 
Corpus catholicorum gegenüberstand. Während aber im alten Reich Katholizismus und 
Protestantismus sich annähernd die Wage hielten, ist im neuen Reich der Katholizismus 
in die Minderheit geraten, dem alten katholischen Kaisertum ist im neuen Reich ein 
protestantisches gefolgt. Allerdings hat die katholische Minderheit der Gegenwart 
gegenüber der protestantischen Mehrheit den großen Vorteil innerer Einheit und 
Geschlossenheit. Selbst guter Protestant, bestreite ich doch nicht, daß, wenn die 
Protestanten nicht selten mit Grund über mangelndes Verständnis von seiten der 
Katholiken klagen, andererseits auch in protestantischen Kreisen vielfach nicht die 
wünschenswerte Duldsamkeit gegenüber den Katholiken herrscht. Beide Konfessionen 
baben allen Grund, das schöne Wort von Görres zu beherzigen: „Wir alle, Katholische 
und Protestantische, haben in unseren Bätern gesündigt und weben fort an der Webe 
menschlicher Frrsal, so oder anders. Keiner hat das Recht, sich in Hoffart über den anderen 
hinauszusetzen, und Gott duldet es von keinem, am wenigsten bei denen, die sich seine 
Freunde nennen.“ Mein alter Regimentskommandeur, der spätere Generalfeldmarschall 
Freiherr von Los, ein guter Preuße und guter Katholik, sagte mir einmal, in dieser Be- 
ziehung würde es nicht besser werden, bis der bekannte Grundsatz des französischen Rechts 
due la recherche de la paternité était interdite für uns dahin variiert würde que la 
recherche de la confession était interdite. In diesem Sinne antwortete er einer aus- 
ländischen Fürstin auf die Frage, wie hoch sich der Prozentsatz der protestantischen und 
der katholischen Offiziere in seinem Armeekorps belaufe: „Ich weiß, wie viele Bataillone, 
Schwadronen und Batterien ich befehle, aber ich kümmere mich nicht darum, welcher 
Kirche meine Offiziere angehören.“ So wird in der Armee gedacht, so auch in der 
Diplomatie, und eine solche Denkweise muß auch an allen übrigen Stellen maßgebend 
sein. Das Gefühl der Zurücksetzung, das vielfach noch in katholischen Kreisen herrscht, 
kann nur überwunden werden durch eine wahrhaft paritätische Politik, durch eine Po- 
litik, für die es, wie ich es einmal im Abgeordnetenhause ausgesprochen habe, weder 
ein katholisches noch ein protestantisches Deutschland gibt, sondern nur die eine und 
unteilbare Nation, unteilbar in materieller, und unteilbar in ideeller Beziehung. 
Auf der anderen Seite bestehen aber schwere Bedenken dagegen, daß eine konfes- 
sionelle Partei in der Politik einen so außerordentlichen und ausschlaggebenden Ein- 
fluß ausübt, wie dies lange Fahre hindurch bei uns der Fall war. Eine Partei, die durch 
Das Zentrum. 
  
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