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sich in engeren Grenzen. Er hat sich einer ihm nicht oblie-
genden Pflicht unterzogen, theils wegen der engeren Verbindung,
welche er seit dem i6ten Jahrhunderte mit der Kirche einging,
theils weil er die Güter einzog, welche die Kirche ehedem in
den Stand gesetzt halten, in ausgedehntem Umfange für: die Be-
dürfnisse der Armen zu sorgen.
In den Händen und unter der Leitung des Staates ver-
wandelte sich seiner Natur entsprechend die Liebespflicht
der Wohlhabenden in eine Rechtspflicht.e Aus den mit
wachsender Regelmässigkeit und nach der Anordnung weltlicher
Behörden gesammelten Almosen entwickelte sich das nur halb
freiwillige Armengeld und erwuchs zuletzt die Armen-
steuer oder der Zuschuss zur Armenverwaltung aus dem
Gemeindeseckel.
Die vorhin näher erörterte Thatsache, dass ein Theil des
der Arbeit gebührenden Lohnes in der Form des Wohlwollens
und zuletzt wirklich als Almosen gewährt wurde, hat ohne
Zweifel die Rückwirkung gehabt und dazu beigetragen, dass
der Staat’ Aeusserungen des Wohlwollens und Gaben der Liebe
zum Gegenstande einer gesetzlichen Verpflichtung machen zu
müssen und zuletzt die gesammte Armenpflege ohne weitere
Mitwirkung der Kirche als einen Zweig der öffentlichen Ver-
waltung behandeln zu dürfen glaubte.
Statt indess die wahre Ursache dieser Vermischung und
Verwechselung der Liebes- und der Rechtspflichten zu erkennen
und derselben bewusst zu bleiben, begründete der Staat seine
Anordnungen auf die mit dem Erlöschen eines tieferen religiösen
Lebens sich entwickelnden Begriffe von natürlichen und
angeborenen Rechten eines jeden Menschen gegen seine
Mitmenschen. Er erkannte einen allgemeinen Anspruch des
Hilfsbedürftigen auf Unterstützung an, der sich unter seinem
Siegel nicht mehr auf das ganze menschliche Geschlecht,
noch auf dessen Einheit, sondern nur auf die Gesammtheit
der Staatsbürger und deren Gemeinschaft bezog. So wurde
aus einer Bruder- und Liebespflicht eine bürgerliche
und gesetzliche Pflicht.
Begünstigt und befestigt wurden diese Ansichten fünftens