462 Völkerrechtliche Lehre
So ist denn aber jetzt im Völkerrechte dieFrageüber das
Asylrecht und seine etwaigen Bedingungen und Beschränkungen
in die erste Reihe getreten. Sie beschäftigt alle Kabinete, seizt
die Parlamente und die Presse in Bewegung, ist Gegenstand viel-
fachster Besprechung unter Kundigen und Unkundigen, ihre prak-
tische Behandlung kann zu ernstesten Verwicklungen unter den
mächtigsten Staaten Veranlassung geben. Allerdings ist diese
Frage nichts weniger als eine neue. Zu allen Zeiten haben
Flüchtlinge in einem fremden Staate Schutz gegen die Gewalten
in ihrem Vaterlande gesucht. Auch waren von jeher die ver-
schiedensten Veranlassungen zur Entfernung aus der Heimath,
bald allgemeine Verhältnisse, bald Handlungen Einzelner. Religion
und Staatsverfassung sind der Grund der Zerwürfnisse gewesen;
Königlichgesinnte, Aristokraten, Demokraten haben sich in’s Aus-
land flüchten müssen. Hier waren es die Edelsten ihres Volkes,
dort hassenswerthe Verbrecher. Auch hat es an Verhandlungen
und Streitigkeiten unter den Staaten über den den Flücht-
lingen gewährlen Aufenthalt und Schutz schon früher eben so
wenig gefehlt, als die Lehrer des Völkerrechts und des Straf-
rechts unterlassen haben, iheoretische Sätze aufzustellen. Den-
noch ist zu behaupten, dass der ganze Gegenstand in neuerer
und neuester Zeit in eine ganz andere Stellung geireten ist, und
zwar durch Zusammenwirkung mehrerer äusserer Gründe. Ein-
mal waren Gährungen und Umwälzungen kaum noch je in so
vielen Staaten zugleich gewesen, als jelzt, und waren desshalb
auch noch niemals politische Flüchtlinge in so massenhafter An-
zahl vorgekommen. Wo es sich aber von der Möglichkeit einer
Heerbildung handelt, treten andere Erwägungen und Forderungen
ein, als wenn nur Einzelne zu Handlungen entschlossen sein
können. Dieser Umstand ist aber um so mehr von Bedeutung,
als, zweitens, zwar die Flüchtlinge jedes einzelnen Volkes einen
eigenthümlichen Wunsch haben und etwa einen besonderen Zweck
verfolgen, allein zwischen allen eine grössere oder geringere
Solidarität der Interessen besteht. Alle können nämlich nur durch
demokratische Umwälzungen zum Siege ihrer Meinungen und zur
Rückkehr gelangen; und wo immer ein Umsturz einer beste-
henden monarchischen Regierung erfolgte, wäre es wenig-