Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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vollkommen. Dies wurde in dem Maße anders, 
als die wirtschaftlichen Verhältnisse sich nach und 
nach änderten, als die Naturalwirtschaft der auf- 
strebenden Geldwirtschaft weichen mußte und der 
einst vollgültige Rechtsgrund der Belastung nicht 
nur dem Bewußtsein der beschwerten Bevölkerung 
entschwand, sondern mehr und mehr überhaupt 
aufhörte, nachdem die öffentlichen Funktionen und 
Aufgaben, deren Gegenleistung die Lasten großen- 
teils waren, nach und nach von dem erwachenden 
modernen Staate übernommen wurden, welcher 
die sämtlichen Staatsangehörigen ohnehin zu ent- 
sprechenden Leistungen heranzuziehen begann. Das 
allmählich zur Anerkennung gelangende Prinzip 
der Wirtschaftlichkeit weckte ferner in weiten Krei- 
sen die Überzeugung, daß die freie Arbeit nicht 
nur einen höheren sittlichen Wert, sondern auch 
einen größeren ökonomischen Effekt erziele als die 
durch herkömmliche Pflichten und persönliche Ge- 
bundenheit bedingte Art der Arbeitsleistung. Je 
mehr sich diese Uberzeugung Bahn brach, desto 
mehr wurde die Gebundenheit als eine Fessel des 
wirtschaftlichen Fortschrittes empfunden und die 
Beseitigung sowohl im Interesse der Bevölkerung 
wie der Volkswirtschaft gefordert. Da der Staat 
bei den noch bestehenden Steuerprivilegien des 
Adels in dem von der bäuerlichen Bevölkerung 
bewirtschafteten Grund und Boden die wichtigste 
Steuerquelle erkannte, war die Erhaltung und 
Unterstützung des Bauernstandes aufs engste mit 
dem fiskalischen Interesse des Staates verknüpft. 
Dazu trat im 18. Jahrh. die geistige Macht 
naturrechtlicher und philosophischer Ideen, welche 
die Freiheit und Gleichheit aller zum Grundsatze 
erhebend die Unfreiheit vom Standpunkte der 
natürlichen Menschenwürde aus verurteilten, sowie 
die damals wirksam eingreifende Kraft der physio- 
kratischen Lehre, welche die Ertragsfähigkeit von 
Grund und Boden als die alleinige Quelle natio- 
naler Macht und nationalen Reichtums pries. 
Ihre radikale praktische Verwirklichung fanden die 
besagten Bestrebungen zunächst in Frankreich, wo“ 
im Jahre 1789 alle Berechtigungen und Ver- 
pflichtungen, die mit der Grundherrlichkeit zu- 
sammenhingen, mit einem Schlage ohne Entschä- 
digung beseitigt wurden. Das Beispiel Frankreichs 
war von mächtiger warnender Wirkung auf die 
übrigen europäischen Staaten. Allenthalben be- 
gann man zunächst die persönliche Befreiung des 
Bauernstandes, sodann die Beseitigung der auf 
demselben ruhenden Lasten und Beschränkungen in 
Angriff zu nehmen. Dieses Werk wurde in Deutsch- 
land in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. in der 
Weise durchgeführt, daß man die Hörigkeit ab- 
schaffte, die Leihverhältnisse an Grund und Boden 
in freies Eigentum der Beliehenen verwandelte usw. 
und die auf dem Gute haftenden Grundlasten eni- 
weder einfach aufhob oder, was die Regel war, 
einem Ablösungsverfahren unterwarf. 
In der Regel ohne Entschädigung hob man die 
aus der Übertragung von Hoheitsrechten entstan- 
Grundlasten. 
  
  
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denen, dann die am Boden haftenden, aber an ein 
Leibeigenschaftsverhältnis anknüpfenden Grund- 
lasten bzw. Berechtigungen auf: so das Ober- 
eigentum der Lehns-, Zins-, Grundherren-, Ver- 
kaufs-, Näher= und Retraktrechte, die Abgaben 
Nichtangesessener an Guts-, Grund-oder Gerichts- 
herrschaften, die Patrimonialgerichtsbarkeit, das 
Jagdrecht auf fremdem Grund und Boden u. a. 
Wo sich mehr oder weniger sichere privatrechtliche 
Titel des Berechtigten nachweisen ließen, wurden 
Entschädigungen gewährt: so bei Grundrenten, 
sofern sie auf dinglichen Rechten beruhten, Zehnten, 
Abgaben bei Eigentumsveränderungen, Spann- 
und Handfronden auf Grund von Gesetz und 
Vertrag, Hütungs= und Waldbefugnissen. Die 
Entschädigung erfolgte regelmäßig in Geld, aus- 
nahmsweise durch Landabtretung (Preußen). 
Man ermittelte, welchen Ertragswert das Gut 
nach Abzug der Lasten für Grundbesitzer habe, und 
nahm hiernach die Teilung des Gutes vor, oder 
man stellte ein Entschädigungskapital fest, indem 
man den durchschnittlichen Jahreswert der Grund- 
lastberechtigung je nach dem gesetzlich zu bestim- 
menden Zinsfuße mit einer Anzahl von Jahren 
(18—25) multiplizierte. Bei unregelmäßig wieder- 
kehrenden Fällen erhob man die durchschnittliche 
Zahl der Leistungsfälle im Jahrhundert. Das 
Ablösungsgeschäft wurde unter steter Mitwirkung 
des Staates vollzogen und insbesondere gefördert 
durch Errichtung von Ablösungskassen (Renten- 
banken), welche den Pflichtigen die Ablösungs- 
summen vorschossen oder die unmittelbare Be- 
friedigung der Berechtigten (in bar oder durch 
Schuldverschreibungen) gegen Übernahme lang- 
samer Tilgung durch die Pflichtigen vollzogen. 
Überdies hat der Staat vielfach selbst Beiträge 
zur Erleichterung des Ablösungswerkes in Form 
von Nachlässen geleistet. Eine der Ablösung der 
Grundlasten verwandte, gleichfalls im Interesse 
der Einzelwirtschaft durchgeführte Maßregel war 
die Aufteilung der Gemeindegüter und Beseitigung 
der wechselseitigen Grundgerechtigkeiten. Auf diese 
Weise wurden in den meisten Staaten bald in 
rascherem bald in langsamerem Tempo die Reste 
einer alten Rechts= und Wirtschaftsordnung be- 
seitigt. Vgl. d. Art. Ablösung. 
4. Moderne Grundbelastung. An die 
Stelle der öffentlichen Zwecken dienenden Grund- 
lasten sind im modernen Staate die Steuern, vor 
allem die Grund= und Häusersteuer getreten; die- 
selben erscheinen aber rechtlich nicht mehr in der 
Form von Reallasten, sondern als rein persön- 
liche, öffentlich-rechtliche Verpflichtungen. Nichts- 
destoweniger ist ihnen die ökonomische Wirkung 
der alten Grundlasten, die in der Reduzierung der 
Wirtschaftserträgnisse besteht, geblieben. Außer- 
dem sind eine Reihe weiterer Verpflichtungen, ins- 
besondere in Form von Versicherungsbeiträgen zu 
staatlichen oder privaten Versicherungen hinzu- 
getreten, die gleichfalls rechtlich persönlichen Cha- 
rakter tragen, denen aber eine ähnliche Wirkung
	        
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