Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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liche Arbeiter von Wert ist, wird noch zu besprechen sein. 
Hier sei zunächst auf die Verknüpfungen mit der Heim- 
industrie hingewiesen. Die Stellung und Bedeutung der- 
selben erfährt oft nicht die richtige Beleuchtung. Das gern 
gebrauchte Wort „Heimindustrie = Elendeindustrie“ trifft 
das Wesen dieser Arbeitsform nicht in seinem Innern. Ge- 
wiß packt jeden das Bedauern, wenn er in Statistiken liest, 
daß hierbei oft ein Stundenlohn von wenigen Pfennigen 
berechnet wird, oder das Schock oder Gros der und jener 
Ware nur den Bruchteil einer Mark Verdienst bringen. 
Aber es wird hierbel oft nicht beachtet, unter welchen Ver- 
hältnissen die Arbeit vor sich geht und daß sich ein zu- 
friedener Heimarbeiter oft in jeder Beziehung besser steht 
als mancher gut bezahlte Industriearbeiter. 
Es muß hierbei unterschieden werden zwischen dem 
selbständigen Hausgewerbe und der Heimarbeit, 
die mehr oder weniger als eine Ergänzung zu einem Be- 
rufe anzusehen ist, wie etwa die Winterfüllarbeit in länd- 
lichen Gegenden. 
Unstreitig sind einige Zweige der Hausindustrie dem völ- 
ligen Niedergang verfallen, z. B. die Hausweberei, obschon 
sie, was die Arbeiterzahl betrifft, in Sachsen mit an 
erster Stelle steht. Diesem Berufszweige Kriegsbeschädigte 
zuzuführen, muß als verfehlt bezeichnet werden, wenigstens 
soweit es sich um Handweberei als Haupttätigkeit handelt. 
An den kleinen Stick= und Strickmaschinen können Kriegs- 
beschädigte in sitzender Tätigkeit, auch bei Anwendung 
von Ersatz= und Behelfsgliedern, ganz annehmbare Löhne 
verdienen. Freilich hat das zur Voraussetzung, daß die Ar- 
beit auf brauchbaren Maschinen im unmittelbaren Anschluß 
Lan eine Fabrik erfolgt. Auch wird die Ausbildung am besten 
durch eine Fachschule erfolgen. In Chemnitz, Auerbach, 
Mauen u. a. a. O. sind hierbei gute Erfolge erzielt wor- 
den. Zu warnen sind die Kriegsbeschädigten davor, ohne 
jede Erfahrung eine Maschine anzukaufen, wie sie gewissen- 
lose Händler unter anscheinend günstigen Bedingungen feil- 
bieten. Ganz abgesehen davon, daß der Preis derartiger 
Maschinen im Verhältnis zur Güte derselben fast stets ein 
reichlich hoher ist, sind auch die Absatzmöglichkeiten der fer- 
tigen Ware und der damit verbundene Verdienst in der 
Regel so gering, daß hierbei an einen Broterwerb nicht zu 
denken ist. 
In der Metallindustrie kommen fabrikmäßige 
Lohnhausarbeiten, die Massenherstellung kleiner Gegen- 
stände in Betracht. Es ist also keine eigentliche handwerke- 
mäßige Tätigkeit, sondern ein Betrieb, ähnlich dem der 
angelernten Industriearbeiter. Bei einigem Entgegenkom- 
men der Unternehmer ist die Ubernahme von Teilarbeiten an 
Massenartikeln für Fabriken seitens Kriegsbeschädigter zur 
Befriedigung für beide Teile durchführbar. Es handelt 
sich hierbei nicht um reine Handarbeiten, wie etwa Zu- 
schneiden, Biegen, Löten, Nachfeilen und Zusammen- 
passen einzelner Sachen, sondern um maschinelle 
Massenherstellung kleiner Metallgegenstände, die sonst 
ausschließlich in Fabriken erfolgt. Hierbei ist die Ver- 
wendung von Kleinmotoren, deren Antrieb durch die 
fast überall vorhandene elektrische Leitung ohne besondere 
Umstände geschieht, zu empfehlen. Die Kosten der erforder- 
lichen Einrichtung übersteigen in der Regel kaum einige 
hundert Mark. Sie können in üblicher Weise durch Raten 
abgezahlt werden. Doch empfiehlt es sich in diesem Falle, 
daß die Fürsorgestellen die Regelung vermitteln, damit 
eine Ubervorteilung der Kriegöbeschädigten vermieden wird. 
Vielleicht lassen sich auch größere Fabriken herbei, die be- 
nötigten Maschinen und Motore pachtweise zu verleihen. 
Diese Art eineo häuslichen Kleinbetriebes wird für viele 
Kriegsbeschädigte ungleich ersprießlicher sein, als wenn sie 
gezwungen sind, in die Fabriken zu gehen. Derartige Haus- 
arbeiter fühlen sich in der Regel viel freier und ungb- 
hängiger, da eine etwaige Arbeitsunterstützung durch die 
Familienangehörigen erfolgen kann. In der „Bestandteil- 
macherei“ der Musikinstrumentenmacherei (Mark- 
neukirchen i. V.) besitzt Sachsen schon eine eigenartige Zunft 
der Hauvzaarbeiter, in der bei stetem Ineinandergreifen von 
Hand= und Kleinarbeit reichliche Löhne erzielt werden. 
Die mannigfache Arbeitsteilung bietet hier vielen Kriegs- 
beschädigten Gelegenheit zu gewinnbringender Betätigung. 
Für den handwerklichen Kleinbetrieb, namentlich fuüͤr 
kleinere Metallarbeiten, sind die mechanischen Ar- 
beitshilfen, die der Leipziger Fabrikant Albert Oster- 
wald erfunden und erprobt hat, sehr wertvoll (vgl. beif. 
Abbildungen). Diese beiden Geräte, eine eigenartige Klemm- 
vorrichtung und ein Schraubstock, sind so eingerichtet, daß 
sie mit einem Fuß, unter Umständen auch mit einem Fuß- 
stumpf bedient werden können und die eigentliche Arbeit 
am Werkstück mit einer Hand erfolgt. Beide Geräte sind 
schon für sich allein schätzenswerte Hilfen, die wechsel- 
seitige Verbindung beider ergibt ein vollkommenes Arbeits- 
gerät für Handverletzte der verschledensten Gewerbe. Die 
Geräte können an jedem Tische ohne große Vorbereitung 
angebracht und entfernt werden. Hier handelt es sich 
um wirklich brauchbare und erprobte Werkzeuge, die nicht 
mit Kriegobeschädigten, sondern auch Gesunden eine Unter- 
stützung bei der Arbeit bieten. 
Als minderwertige und wenig lohnende Hausarbeit wurde 
und wird noch vielfach die Herstellung von Holäspiel- 
sachen im sächsischen Erzgebirge angesehen. Dem gegen- 
über muß zunächst festgestellt werden, daß die Zeiten der 
billigen Schundwaren, bei denen sich der Großhändler 
zum Nachteil der Hersteller bereicherte, glücklicherweise über- 
wunden sind. Durch das Eingreifen des Kunstgewerbes 
und der durch dieses beeinflußten Fachschulen ist die Quali- 
tät der Spielwaren und damit der dafür angesetzte Preis 
gehoben worden. Wenn es weiterhin gelingt, das Publi- 
kum so weit zu erziehen, daß es sich nicht vom Händler 
die Waren aufschwatzen läßt, die dem Verkäufer den größten 
Gewinn bringen und die Meßeinkäufer dem Großhändler 
nicht durch die ebenso alte als alberne Redensart „ das 
verlangt das Publikum“ in seiner Bewegungsfreiheit hin- 
dern, wird es auch auf dem Gebiete der Spielzeugindustrie 
aufwärts gehen. Daß bei der Herstellung von Spielwaren 
ein ganz auskömmlicher Verdienst zu erzielen ist, beweisen 
die Arbeiten in den Lazaretten, die an verschiedenen Orten 
auf Rechnung von Spielzeughändlern hergestellt werden. 
Die hierfür gezahlten Preise sind derart, daß bei regel- 
mäßiger Arbeit ein Verdienst erzielt wird, der berufs- 
mäßiger handwerklicher Tätigkeit nicht nachsteht. Nach 
dieser Seite hin hat also die in erster Linie anderen Zwecken 
dienende Beschäftigung in den Lazaretten für viele Kriegs- 
beschädigte anregend und fruchtbringend gewirkt. 
Bei der Arbeitstherapie in den Lehrwerkstätten, d. h. bei 
der Werktätigkeit, die in erster Linie Heilzwecken dient, 
zeigt es sich, daß für die meisten Handbeschädigten die 
Arbeit in der Buchbinderei von großem Werte ist. Da 
außerdem bei vielen Verwundeten überraschende Fortschritte 
in technischer Beziehung zu bemerken sind und ihnen auch 
die Tätigkeit zusagt, kann gegebenenfalls Buchbin der- 
und Kartonnagenarbeit an Orten mit entsprechender 
Industrie als lohnende Hauarbeit getrieben werden. 
Zu den hier herausgegriffenen Beispielen von Zweigen 
der Hausindustrie lassen sich noch verschiedene hinzufügen. 
Meist sind es aber Sondergebiete, die nur in den gegebenen 
Verhältnissen und unter bestimmten Voraussetzungen für 
Kriegebeschädigte vorteilhaft ausgenutzt werden können. 
Hierbei sei auf eine Arbeit hingewiesen, die auf den ersten 
Blick anscheinend für Kriegsbeschädigte als Hausarbeit 
recht geeignet erscheint: die Herstellung von Zi- 
garren. Dieser Heimarbeit wenden sich Kriegsbeschädigte
	        
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