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Das nachstehend mitgetheilte Erkenntniß des Bundesamtes vom 16. Dezember 1876 in Sachen Kleinseel-
heim contra Niederwald liefert einen Beitrag zur Beurtheilung der Frage, ob Familienväter an dem
Wohnorte der Angehörigen ihren persönlichen Aufenthalt beibehalten, wenn sie auswärts arbeiten, insbe-
sondere in dem Falle des Eintritts in einen auswärtigen Gesindedienst. .
Unbestritten verließ Johannes S. im Anfang des Februar 1875 den Bezirk des ver-
klagten Armenverbandes Niederwald, in welchem seine Frau ein eignes Häuschen besaß, und
bis zu dem gedachten Zeitpunkte ununterbrochen länger als zwei Jahre wohnte.
Streitig ist, ob auch der Aufenthalt des Johannes S. selbst eine zweijährige Dauer
erreicht hat. Als derselbe im November 1872 aus seinem fünf Jahre bestandenen Dienstver-
hältnisse in Rüdigheim ausschied, nahm er, wie die Beweisaufnahme ergeben hat, seinen ge-
wöhnlichen Aufenthalt zunächst in Niederwald bei Frau und Kindern. Seine persönliche An-
wesenheit in Niederwald während der folgenden 2 Jahre 2—3 Monate war jedoch, wie Ver-
klagter behauptet, und die Zeugen bestätigt haben, in der ersten Zeit bis zum April 1873
keineswegs eine unausgesetzte. Er arbeitete meist auswärts, theils in Kirchhain und Marburg,
theils zu Herdecke in Westfalen, wo er vom 17. Januar 1873 an, nach der Aussage des
Zeugen B. zwei Wochen lang in Arbeit stand, und trat kurze Zeit nach der Rückkehr aus
Westfalen auf der Mühle bei Kappel in einen Gesindedienst, aus welchem er nach Verlauf von
mehreren Wochen zu den Seinigen zurückkehrte, ohne sich wieder von denselben zu trennen.
Der erste Richter hat die Beibehaltung des Aufenthaltes in Niederwald für die Zeit,
wo S. in Westfalen arbeitete, und dann für die Zeit, wo er auf der Mühle bei Kappel im
Gesindedienste stand, verneint, und demgemäß entschieden, daß S. einen Unterstützungswohnsitz
in Niederwald nicht gewonnen habe. «
Dieser Entscheidung war nach Vervollständigung der Beweisaufnahme in jetziger In-
stanz beizutreten. ·
Auf der Mühle bei Kappel hat sich Johannes S. nicht, wie Appellant annimmt, auf
kurze Zeit, sondern nach eigener jetzt erstatteter Aussage auf ein ganzes Jahr, nach der Aus-
sage des Zeugen M. wenigstens bis Weihnachten 1873 als Knecht vermiethet. Er hatte auf der
Mühle auch Kost und Wohnung und konnte bei dreistündiger Entfernung der Mühle von dem
Wohnorte der Familie, Niederwald, ohne Vernachlässigung seiner Dienstpflicht offenbar nicht so
häufig und regelmäßig nach Niederwald kommen, wie früher von Kirchhain und Marburg aus,
wo er nur Taglöhnerarbeit verrichtete. Dies war denn auch der Grund, weshalb er auf An-
dringen seiner Frau den Dienst in der Mühle nach einigen Wochen wieder aufgab. Daß er
von vornherein die Absicht gehabt habe, nicht länger zu bleiben, ist in keiner Weise aus seiner
Aussage zu entnehmen. Hatte er sich aber darauf eingerichtet, mindestens bis Weihnachten 1873
auf der Mühle als Knecht zu dienen, so reicht die Zurücklassung der Familie in Niederwald
allein nicht aus, um die Beibehaltung des Aufenthaltes für das Familienhaupt während der
persönlichen Abwesenheit desselben zu begründen. Vielmehr vollzog sich mit der Entfernung nach
Kappel ein Aufenthaltswechsel des Johannes S., welcher den Lauf der zweijährigen Frist zum
Erwerb des Unterstützungswohnsitzes unterbrach, so daß dieselbe erst nach der Rückkehr von
neuem zu laufen begann, und bis Anfang Februar 1875 noch nicht erfüllt war.
Ob der gewöhnliche Aufenthalt in Niederwald schon durch die vierzehntägige Abwesen-
heit in Westfalen eine Unterbrechung erlitten hat, wie der erste Richter annimmt, bedarf hiernach
keiner Erörterung.