auf berufen, daß das preußische Ministerium Mann für Mann
den Handelsvertrag gutgeheißen. Aber das vom Finanzminister
v. Miquel vertraulich gesprochene Wort, die Konservatioen wären
Esel, wenn sie nicht gegen den Vertrag siimmten, konnte nicht in
Abrede gestellt und auch vicht durch eine Reichstagsrede Migquels
für den russischen Vertrag vergessen gemacht werden. Einem so
klugen Kopf wie ihm war es nicht entgangen, daß für eine stetige
Politik im Reiche ein festerer Halt notwendig war, als die Mehr-
heit bieten konnte, die den Handelsvertrag angenommen hatte, und
daß die Opposition der Rechten bei dem beherrschenden Einfluß,
den sie in der Verwaltung Preußens ausübte, auf die Dauer nicht
zu ertragen war. Ihm schwebte der Gedanke einer Wiederan-
näherung der alten Kartellparteien vor, die sich nach Beendigung
der handelspolitischen Debatten wohl auf Grund des gemeinsamen
Eintretens der Konservativen und des größten Teils der National-
liberalen für den Fürsten Bismarck und gegen den „inneren Feind“,
vielleicht später sogar mit Anschluß des Zentrums, bewerkstelligen
ließe. Caprivi machte sich wenig Sorge darum, daß Nachrichten
über eine beabsichtigte hohe Auszeichnung für Herrn v. Miquel
erschienen und allerlei über seine enge Fühlung mit dem Grafen
Herbert Bismarck herumerzählt wurde. Er gab sich damit zu-
frieden, zu wissen, daß der Kaiser für jetzt keine Krisis haben
wollte. Auf eine vom Grafen Eulenburg im Namen Miquels
gestellte Anfrage, ob er dessen Rücktritt wünsche, gab er zur Ant-
wort, seinetwegen könnte Herr v. Miquel Finanzminister bleiben,
nur dürfte er nicht erwarten, daß er liberalen Blättern, die für die
Kanzlerpolitik gegen die Kreuzzeitung einträten, wegen unfreund-
licher Artikel über Miquel Fußtritte gäbe. Das machte der Offen-
heit und dem Selbstbewußtsein des Kanzlers alle Ehre, trug aber
nichts dazu bei, die Unklarheiten über die ministerielle Situation
in der Offentlichkeit zu beseitigen. Die Krisengerüchte wollten denn
auch nicht verstummen.
„Die Amter des Reichskanzlers und des preußischen Minister-
präsidenten können auf die Dauer nicht getrennt sein, ohne die
Verfassung zu fälschen und die Autorität des Reiches zu schwächen.
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