Full text: Der neue Kurs.

sieht und klar erkennt, aber die großen Linien und den Charakter 
der Landschaft nicht erschaut. Die Ankündigung bei seinem ersten 
öffentlichen Auftreten als Kanzler, er werde das Gute nehmen, 
wo er es finde, war als freundliche Einladung zu Wohlwollen 
und Beistand recht am Platze, aber als starrer Grundsatz und 
System auf die Dauer mit beständig wechselnden Gefolgschaften 
war sie unmöglich. 
Wie er selbst ohne Familie, ohne Besitz, aber auch ohne 
Selbstsucht und ohne Spur eines unsachlichen Denkens ein iso- 
lierter Mann war, so hat er auch nur isolierte Taten vollbracht. 
Aber was er im Auswärtigen mit dem Helgolandvertrag, im 
Militärischen mit der Reorganisation des Heeres, im Innern mit 
der Abwehr einer schweren Gefahr für den ruhigen Gang der Ent- 
wicklung geleistet hat, das sind Taten — von der Mitwelt ge- 
scholten, von der Nachwelt zu preisen. In den großen Zeitfragen, 
die für die Zukunft des Reiches entscheidend waren, hat er nicht 
geirrt und nicht gefehlt. Wer ihm immer noch Skrupellosigkeit, 
Unfähigkeit und Eitelkeit vorwirft1), hat die Schwere der Auf- 
gabe, Nachfolger Bismarcks zu sein, nicht begriffen und redet 
kritiklos parteiische Urteile von Zeitgenossen nach, die der Lauf 
der Geschichte widerlegt hat. Caprivi hat sich mit der Stärkung 
der Sicherheit des Reiches nach außen und mit dem Offenhalten 
des Weges zum Frieden mit den breiten Massen darum nicht weni- 
ger um das deutsche Volk verdient gemacht, weil er in allen 
drei Fällen, beim Helgolandvertrage, bei der Militärreform, bei 
der Behandlung der Umsturzgefahr, von seinem großen Vorgänger 
nicht unterstützt, sondern bekämpft wurde. Und war ein lauterer 
Charakter! 
  
1) Z. B. Dietrich Schäfer: Bismarck, 1917, S. 218. 
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