106 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche.
über übernommenen schweren Pflicht und Verantwortlichkeit. Jedenfalls ist das Eintreten dieser
Voraussetzung etwas so unbestimmbares, dass es nicht als zuverlässiger Faktor in die kirchen-
politische Berechnung einer absehbaren Zukunft eingestellt werden kann. Aber auch wenn dieses
Hindernis beseitigt wäre, bliebe noch ein letztes und schwerstes: die dann unvermeidliche Ver-
mögensauseinandersetzung zwischen den Staaten und Kirchen. Auch hier ist
unsere Lage handgreiflich verschieden von der des französischen Staats. In Frankreich war durch
Gesetz vom 2. Nov. 1789 das konfiszierte katholische Kirchengut für Staatseigentum erklärt.
Obne Übernahme weiterer Verbindlichkeiten wurde der Kirche ein Gebrauchsrecht daran einge-
räumt. So konnte das Trennungsgesetz von 1905 ‚„‚die vom Staat herstammenden Güter“ an diesen
zurückfallen lassen und sogar den Schein der Grossmut erwecken, wenn der französische Staat den
neu sich bildenden Kultusvereinen gewisse Vermögensbestandteile in widerruflicher Weise überliess.
Bei den Säkularisationen des deutschen Kirchenguts i. J. 1803 wurde von allen beteiligten Staaten
durch $35 des Reichsdeputationshauptschl ine öffentlich rechtliche Verpflichtung übernommen,
die Kirchen dauernd zu dotieren. Diese Verpflichtung wird sukzessive durch die ordentlichen oder
ausserordentlichen Staatsleistungen nach Massgabe der Kultusbudgets erfüllt. Ob der Wert des
hierdurch Geleisteten den Wert der Säkularisationen schon jetzt erreiche oder übersteige, ist für
die bindende Kraft der Verpflichtung selbst ohne Belang. Theoretisch stünde natürlich nichts im
Weg, diese Verpflichtung durch einmalige Ablösung zu beseitigen. Tatsächlich wäre eine solche un-
ausführbar. Die Unmöglichkeit der Leistung wird die deutschen Staaten kraft geschichtlicher Not-
wendigkeit zwingen, bei dem bisherigen System zu bleiben. Solange aber ein Kultusbudget besteht,
sind Staat und Kirche nicht getrennt. Das eben ist der Widersinn des Systems und die Quelle der
staatlichen Unfreiheit in Belgien, dass das Oberaufsichtsrecht des Staates zurückgezogen, seine
Zahlungsverbindlichkeit aber geblieben ist. .
Solange diese Hindernisse staatsrechtlicher, kirchenrechtlicher und vermögensrechtlicher
Art nicht überstiegen werden können, ist die Möglichkeit einer Trennung von Staat und Kirche in
Deutschland nicht abzusehen. Dass sie in irgend einem Zeitpunkt auch hier sich durchsetzen werde,
scheint nach dem universalgeschichtlichen Entwickelungsprinzip des Verhältnisses von Staat und
Kirche überhaupt gewiss. Der Streit des Tages kann nur darum gehen, ob es richtiger sei, durch
vorgreifliche Akte der Gesetzgebung, welche nicht ohne Verletzung wohlerworbener Rechte möglich
sind, jenen Prozess künstlich zu beschleunigen, oder seinen Ablauf der Vernunft und Stetigkeit
organischerEntwickelung anheimzugeben. Ich trete für das letztere ein. Damit ist
schon unzweifelhaft konzediert, dass das herrschende System der Kirchenhoheit selbst noch der
weiteren Entwickelung fähig und bedürftig ist. Diese Entwickelung auf der Linie der Gerechtigkeit
und Freiheit zu steigern, insbesondere die noch vorhandenen Rückstände auf den Gebieten der
Gewissensfreiheit und Paritätspflege zu beseitigen, kann allein die Erfolg verheissende Aufgabe der
Gegenwart und nächsten Zukunft sein. Allzusehr hat man sich daran gewöhnt, das Verhältnis von
Staat und Kirche unter dem Gesichtswinkel der brennenden Tagesfragen zu betrachten. So ent-
steht der Eindruck, als ob alles nur von der Willkür der leitenden Personen und der zufälligen
Fügung der Umstände abhänge. Darin liegen vielfach die Quellen der Unruhe, der Verbitterung, der
leidenschaftlichen Kampfesweise. Es würde zum Frieden dienen und die Stetigkeit der Entwickelung
fördern, wenn man sich gegenwärtig halten wollte, dass auch hier eine gewisse natürliche Gesetz-
mässigkeit, eine geschichtliche Teleologie herrscht, die nicht willkürlich und gewalttätig ohne
Schaden für die Sache durchbrochen werden kann. Solches zu begreifen und zu betätigen, ist die
„eisheit der Kircbenpolitik Mit diesem Ergebnis ist die Untersuchung in ihrem Ausgangspunkt
estätigt.