Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXI. Jahrgang, 1910. (21)

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überall gelungenen, aber doch im Fortschritt be- 
findlichen Verständigung der Gesamtheit, um die 
maschinelle Apparatur mit dem tatsächlichen Welt- 
konsum an Fabrikaten wieder in Einklang zu 
bringen, und das muß in verhältnismäßig kurzer 
Zeit gelingen. Denn der Baumwollverbrauch der 
Welt ist mangels jedes Ersatzmittels von irgend- 
welcher Bedeutung in einem ständigen Steigen 
begriffen. Neben die regelmäßige Zunahme der 
bisher konsumierenden Weltbevölkerung tritt als 
ein anreizender Faktor die steigende Wohlhaben- 
heit insbesondere der großen Massen, und zu den 
bisherigen Konsumenten treten sowohl im äußersten 
asiatischen Osten, in Indien und insbesondere auch 
in Afrika große Mengen neuer Konsumenten hinzu. 
Der erheblichste Teil der aus Afrika bezogenen 
Rohstoffe wird, oft unter Umgehung des Geld- 
verkehrs, in Baumwollstoffen abgegolten. Und 
einen großen Teil unseres Exports aus 
unseren Kolonien bezahlen wir mit Waren 
aus amerikanischer Baumwolle. 
Aber wenn dem auch so ist, so hat der Zu- 
stand doch die ebengeschilderten Nachteile gehabt 
und wird sie bis zum Ausgleich auch noch 
weiter haben, und die Nachteile legen sich mit 
besonderem Druck namentlich auf die Arbeiter- 
schaft in der Textilindustrie der ganzen 
Welt. War dieser Druck aber noch erträglicher, 
als das Kapital durch billigere Rohstoffe weniger 
angestrengt, die Spekulation durch die Hoffnung 
auf höhere Preise auch stärkere Orders gab und 
dadurch eine freiere Disposition der Fabrikanten 
ermöglichte, so ist der Notstand dann besonders 
scharf aufgetreten, als im letzten Jahre eine un- 
gewöhnlich knappe Baumwollernte in den Ver- 
einigten Staaten und Agypten nur teilweise durch 
eine hohe indische Ernte wettgemacht wurde. Der 
Weg, in dem die Fabrikation diesem Ubelstande 
begegnete, bestand teilweise in dem sogenannten 
„short time movement“, das bereits im Jahre 
1903 leise eingesetzt hat und zur Zeit augenblick- 
lich in der ganzen Welt die Regel ist. Die Me- 
thode besteht in systematischen Arbeitskürzungen, 
welche im Jahre 1904 in England und einigen 
anderen Ländern begannen, aber, wie bereits ge- 
sagt, sich erst als eine Folge der letzten knappen 
Ernte zur gegenwärtigen Schärfe entwickelten. 
Gleichzeitig sind selbstverständlich die Dividenden 
und Reingewinne außerordentlich heruntergegan- 
gen. Die nachfolgenden Angaben habe ich aus 
Zeitungsnachrichten und Fachblättern sammeln 
lassen und ich muß gleich sagen, daß ich weder 
für die Vollständigkeit noch für die absolute 
Richtigkeit eine Gewähr übernehmen kann. Aber 
sie zeigen doch, auch wenn sie im einzelnen nicht 
durchaus richtig sind, in grellem Streiflicht die 
allgemeine Lage der Spinnindustrie. 
  
In dem letzten, Ende 1909, erschienenen 
Vierteljahrsbericht der Betriebsgemeinschaft der 
englischen Baumwollspinner ist gesagt, daß bei 
einer amerikanischen Ernte von 11 Millionen 
Ballen die Aussichten auf Besserung gering seien 
und bald darauf wurden die tatsächlichen Ernten 
nur auf 10 Millionen Ballen geschätzt. Die ver- 
kürzte Arbeitszeit wurde bis Ende Februar emp- 
fohlen und die Regierung dringend aufgefordert, 
entscheidende Maßregeln zu ergreifen, um die Ge- 
biete zu erweitern, woher die Baumwolle bezogen 
werden kann. Mit der Zuspitzung der Lage hat 
sich nun die Verkürzung der Arbeitszeit und teil- 
weise Betriebseinschränkung allmählich auf fast 
alle Baumwollindustrieländer ausgedehnt. Auch 
in Amerika mußte die Baumwollindustrie dazu 
übergehen, und zwar ist sie zu einer einheitlichen 
Einschränkung übergegangen, welche sie als Ret- 
tung vor einem viel schwereren Unglück bezeich- 
nete. In den letzten Monaten haben sich die 
Nachrichten über die Betriebseinschränkungen so 
vermehrt, daß sich vielfach bereits eine Notlage 
der Arbeiter ergab. Anfang März war die inter- 
nationale Lage der Baumwollindustrie folgende: 
Die italienischen Baumwollspinner feiern 
1½ Tage in der Woche. In der Schweiz hat 
die Baumwollindustrie eine 15 prozentige Be- 
triebseinschränkung, also um ½, eingeführt, welche 
vom 1. Mai ab dauern soll. In Rußland war 
die Einschränkung keine einheitliche. Im Lodzer 
Bezirk sind eine große Anzahl Spindeln zum 
Stillstand gekommen, während in Moskau und 
Umgebung die Spinner die Einschränkung für das 
Frühjahr und den Sommer beschlossen. In 
Japan findet eine einheitliche Einschränkung in Höhe 
von 27 v. H. bis Ende April statt. Eine üÜber- 
einstimmung haben die österreichischen Baumwoll- 
spinner erzielt. Dort schränken 90 v. H. um ½ 
auf sechs Monate, oder um ¼ auf acht Monate 
ein. In Belgien wird ein Tag in der Woche 
gefeiert. Die durchschnittliche Betriebseinschrän= 
kung ist etwa 10 v. H., während in Frankreich 
nur freiwillige Betriebseinschränkungen Platz ge- 
griffen haben. Ebenso ist es in Deutschland, 
wo eine einheitlich organisierte Betriebseinschrän= 
kung noch nicht durchgeführt werden konnte. Das 
elsassisch-lothringische Syndikat der Baumwoll= 
industriellen hat eine Betriebsreduktion einge- 
führt. In England arbeiten die Spinner ameri- 
kanischer Baumwolle schon länger als sieben Mo- 
nate short time. Am bemerkenswertesten ist aber 
die seit Ende 1909 einsetzende kritische Lage der 
Baumwollindustrie in den Vereinigten Staaten 
selbst. Sowohl im Nordosten wie im Süden 
findet mehr und mehr eine Einschränkung des 
Betriebes statt, obwohl reichliche Aufträge vor- 
lagen. Die Produktion kann mit der Preis- 
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