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die Christen der Balkanhalbinsel eine europäische Notwendigkeit sei und
Rußlands orientalische Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müsse.
Mit der Hartnäckigkeit eines religiösen Fanatikers vertiefte er sich in diesen
Gedankengang, bis er endlich zu der Überzeugung gelangte, daß neben
der Zukunft Konstantinopels alle anderen Interessen Europas verschwän-
den. Sein Ziel war die Weltherrschaft des britischen Handels, und mit
wohltuender Ehrlichkeit sprach er aus: „in seiner gegenwärtigen mächtigen
Stellung leidet England unter allen Ereignissen, die es nicht nach seinem
Willen zu leiten vermag.“ Alle anderen Völker waren also lediglich ver-
pflichtet, die britische Weltmacht zu fördern, und mußten es als eine Gnade
betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgendeine Kolonie gönnte.
Dergestalt berührten sich Urquharts Ansichten mit der Meinung Lord
Palmerstons, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmütig
sich England gegen seine verratenen alten Bundesgenossen benommen habe,
und zufrieden lächelnd sagte: „Wir konnten Holland alles nehmen und
wir haben nur das Kap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben
wir wieder herausgegeben.“ Aber auf die Dauer vermochte der geistreiche
Heißsporn die Politik Palmerstons, die doch immer mit den Tatsachen
rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenschaftlicher Gegner des
Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als
einen geheimen Bundesgenossen des Zaren. In allen seinen Schriften
lagen Geist und Narrheit dicht beieinander. Er erkannte scharfsichtig,
daß die Quadrupelallianz ein Fehler war und die Freundschaft der West-
mächte unvermeidlich schwächen mußte; aber seine fixe Idee ließ ihn nie-
mals zu einem unbefangenen Urteile gelangen. Überall wähnte er Ruß-
lands unterirdische Arbeit zu entdecken; sogar den Zollverein, der dem
fanatischen Briten natürlich ein Greuel war, sollte Zar Nikolaus ge-
schaffen haben, um Deutschland erst zu zerspalten und dann Rußlands
Diktatur in Mitteleuropa zu befestigen.
Zur Verbreitung dieser seltsamen Ansichten ließ Urquhart in den
Jahren 1833—37 das Portfolio erscheinen, eine Sammlung geheimer
diplomatischer Aktenstücke mit entsprechenden Erläuterungen, eine der wirk-
samsten politischen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde
in den gebildeten Klassen Mittel-= und Westeuropas jene grundfalsche An-
schauung der orientalischen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte
hindurch, bis zu der großen Enttäuschung des Krimkriegs vorherrschte.
Urquhart wollte zunächst den Ostbund sprengen, namentlich Österreich,
das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be-
trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag
veröffentlichte das Portfolio die Depeschen und Denkschriften, welche Pozzo
di Borgo während des letzten türkischen Krieges nach Petersburg gesendet
hatte; die Abschriften waren zur Zeit des Warschauer Aufruhrs in dem
Palaste des Großfürsten Konstantin aufgefunden und dem gewandten Her-