Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

538 IV. 8. Stille Jahre. 
die Christen der Balkanhalbinsel eine europäische Notwendigkeit sei und 
Rußlands orientalische Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müsse. 
Mit der Hartnäckigkeit eines religiösen Fanatikers vertiefte er sich in diesen 
Gedankengang, bis er endlich zu der Überzeugung gelangte, daß neben 
der Zukunft Konstantinopels alle anderen Interessen Europas verschwän- 
den. Sein Ziel war die Weltherrschaft des britischen Handels, und mit 
wohltuender Ehrlichkeit sprach er aus: „in seiner gegenwärtigen mächtigen 
Stellung leidet England unter allen Ereignissen, die es nicht nach seinem 
Willen zu leiten vermag.“ Alle anderen Völker waren also lediglich ver- 
pflichtet, die britische Weltmacht zu fördern, und mußten es als eine Gnade 
betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgendeine Kolonie gönnte. 
Dergestalt berührten sich Urquharts Ansichten mit der Meinung Lord 
Palmerstons, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmütig 
sich England gegen seine verratenen alten Bundesgenossen benommen habe, 
und zufrieden lächelnd sagte: „Wir konnten Holland alles nehmen und 
wir haben nur das Kap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben 
wir wieder herausgegeben.“ Aber auf die Dauer vermochte der geistreiche 
Heißsporn die Politik Palmerstons, die doch immer mit den Tatsachen 
rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenschaftlicher Gegner des 
Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als 
einen geheimen Bundesgenossen des Zaren. In allen seinen Schriften 
lagen Geist und Narrheit dicht beieinander. Er erkannte scharfsichtig, 
daß die Quadrupelallianz ein Fehler war und die Freundschaft der West- 
mächte unvermeidlich schwächen mußte; aber seine fixe Idee ließ ihn nie- 
mals zu einem unbefangenen Urteile gelangen. Überall wähnte er Ruß- 
lands unterirdische Arbeit zu entdecken; sogar den Zollverein, der dem 
fanatischen Briten natürlich ein Greuel war, sollte Zar Nikolaus ge- 
schaffen haben, um Deutschland erst zu zerspalten und dann Rußlands 
Diktatur in Mitteleuropa zu befestigen. 
Zur Verbreitung dieser seltsamen Ansichten ließ Urquhart in den 
Jahren 1833—37 das Portfolio erscheinen, eine Sammlung geheimer 
diplomatischer Aktenstücke mit entsprechenden Erläuterungen, eine der wirk- 
samsten politischen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde 
in den gebildeten Klassen Mittel-= und Westeuropas jene grundfalsche An- 
schauung der orientalischen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte 
hindurch, bis zu der großen Enttäuschung des Krimkriegs vorherrschte. 
Urquhart wollte zunächst den Ostbund sprengen, namentlich Österreich, 
das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be- 
trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag 
veröffentlichte das Portfolio die Depeschen und Denkschriften, welche Pozzo 
di Borgo während des letzten türkischen Krieges nach Petersburg gesendet 
hatte; die Abschriften waren zur Zeit des Warschauer Aufruhrs in dem 
Palaste des Großfürsten Konstantin aufgefunden und dem gewandten Her-