8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 35
Klarheit darüber zu gewinnen, wer im Deutschen Reiche der eigent-
liche Gesetzgeber ist.
3. Hinsichtlich der Frage, ob der Sanktionsbeschluß des Bundes-
rats an eine Frist gebunden ist und an welche, enthält die Reichsver-
fassung keine Bestimmung. Die Ansichten darüber gehen weit aus-
einander'. Man hat aus dem Prinzip der Diskontinuität gefolgert,
daß die Sanktion erteilt werden müsse, bevor der Reichstag zu einer
neuen Session zusammentritt ?); allein aus, der Diskontinuität, welche
zwischen den einzelnen Sessionen des Reichstags besteht, läßt sich
nicht der Satz herleiten, daß mit dem Beginn einer neuen Reichstags-
session auch für die Tätigkeit des Bundesrates das gleiche Prinzip
Platz greift; für den Bundesrat besteht dieses Prinzip überhaupt nicht
und auf das Verhältnis des Reichstags zu den andern Organen des
Reichs ist es nicht anwendbar. Man hat ferner behauptet, daß die
Sanktion erfolgen müsse, bevor eine neue Legislaturperiode des Reichs-
tages beginne, weil durch die Neuwahlen die Zusammensetzung des
Reichstages sich so verändert haben kann, daß das Gesetz nicht mehr
dem Willen der Majorität desselben entspricht ?). Allein die Gültigkeit
eines Reichstagsbeschlusses ist davon nicht abhängig, daß er dem
Willen der Majorität der Reichstagsmitglieder entspricht; der Reichstag
ist ungeachtet der Verschiedenheit in seinem aufeinanderfolgenden
Mitgliederbestand ein einheitliches und dauerndes Organ des Reichs;
der einmal gefaßte Beschluß hat eine selbständige Kraft, welche un-
mittelbar auf der Reichsverfassung, nicht auf dem fortdauernden Willen
der einzelnen Abgeordneten beruht. Auch die Annahme eines die
Reichsverfassung in dieser Beziehung ergänzenden Gewohnheitsrechts
ist unhaltbar, da in der Praxis der Reichsgesetzgebung wiederholt Fälle
vorgekommen sind, daß Gesetze vom Bundesrat beschlossen und vom
Kaiser ausgefertigt und verkündet worden sind, nachdem eine neue
Session oder Legislaturperiode des Reichstags begonnen hatte und
weder der Kaiser, noch der Bundesrat, noch der Reichstag, noch die
Behörden und Gerichte daran den geringsten Anstoß genommen
haben *). Eine gesetzliche Frist zur Sanktionierung eines vom Reichs-
1) Die umfangreiche Literatur darüber ist verzeichnetbei Meyer, Staatsr. 8 158
Note 17—19 und 8 164 Note 22.
2) Vgl. v. Rönne, Deutsches Staatsr. IL, 1, S. 51; Schulze, D. Staatsr. II,
S. 120; Arndt, Kommentar zu RV. 8 13 (er hat in späteren Auflagen seine Ansicht
geändert).
3) G. Meyer, Staatsr. 8163 a.E.; Rosin, Polizeiverordnungsr. (2. Aufl.) S. 255;
Müller in Hirths Annalen 1904 S. 306; Scheibke, Frist für Sanktion und Publik.
Tübingen 1909. (Diese Schrift geht von dem m. E. unrichtigen Grundgedanken aus,
daß die Gesetzgebung ein Gesamtwille oder Gesamtakt von Regierung und Parlament
sei); v. Jagemann S. 921g.
4) Vgl. die Aufzählung dieser Fälle in der (Leipziger) Dissertat. von A. Kleine,
Besteht eine Zeitgrenze usw. (Berlin 1905) S. 55ff., sowie bei G. Meyer (6. Aufl.)
a. a. O. Note 22.