Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

74 8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 
Staatswesen lebt, in welchem jene Gesetze gelten '). 
Diese Gesetze sind scheinbar Befehle des Staates an sich selbst. 
Da jeder wirksame Befehl aber ein Ueber- und Unterordnungsverhält- 
nis voraussetzt, einen mit der Gewalt zum Befehlen ausgestatteten 
Herrn und einen zum Gehorsam verpflichteten Untergebenen, so kam 
man wegen jenes Scheines dazu, zwischen dem Staat, dem der Befehl 
erteilt wird, und dem Staate, welcher den Befehl erläßt, zu unter- 
scheiden, oder mit anderen Worten: die »gesetzgebende Gewalt« für 
die höchste Gewalt im Staate zu erklären, welcher die anderen »Ge- 
walten« gehorchen müssen, also untergeordnet seien?). Diese Theorie 
löst die Einheitlichkeit des Staates auf und steht im Widerspruch mit 
dem Begriff der Souveränität, der die Unteilbarkeit in sich schließt. 
Die gesetzgebende Gewalt ist identisch mit der Staatsgewalt und kann 
demnach nicht in mystischer und transszendentaler Weise über der 
Staatsgewalt schweben. Jene Gesetze sind auch in der Tat nicht Be- 
fehle, welche an die Staatsgewalt gerichtet sind, sondern Befehle der 
Staatsgewalt an die Behörden und Beamten und an die übrigen Kör- 
perschaften und Personen, welche staatliche Funktionen zu verrichten 
haben. Sie enthalten die Anordnungen des Staates darüber, wie diese 
Funktionen zu versehen sind; sie sind der maßgebende Ausdruck des 
wirklichen und wahren Willens des Staates. Wenn diese Gesetze von 
der Regierung oder der Volksvertretung, von Behörden und Beamten 
verletzt werden, so tritt nicht die Staatsgewalt mit sich selbst in Wi- 
derspruch, sondern die Personen, welche das Gesetz, statt es zur An- 
wendung zu bringen, verletzen, treten in Widerspruch mit der Staats- 
gewalt. Die Staatsgewalt in abstracto ist durch das Gesetz niemals ge- 
bunden, denn der Staat kann seine Gesetze jederzeit ändern, suspen- 
dieren oder aufheben, wohl aber Jeder, der die Staatsgewalt nach dem 
Willen des Staates zu handhaben hat. 
Wenn ein Gesetz keine Rechtsregeln zum Inhalte hat, sondern ein 
konkretes Rechtsverhältnis, z.B. die Ermächtigung zum Abschluß 
einer Anleihe, eines Kaufes oder Verkaufes, einer Schenkung (Dotation), 
einer Bürgschaftsübernahme u. dgl., oder die Erteilung einer Decharge, 
Indemnität, Ratihabition, oder einen Auftrag, Dienstbefehl usw., oder 
die Aufstellung eines Wirtschaftsplans (Rechnungsvoranschlags) usw., 
oder die Entscheidung eines Rechtsstreites, so sind seine materiellen 
Wirkungen nicht diejenigen der Rechtssatzung, sondern diejenigen 
des Rechtsgeschäftes und zwar in jedem Falle nach Maßgabe der 
konkreten Willenserklärung, welche in dem Gesetze enthalten ist. Mit 
Rücksicht auf die materiellen Wirkungen ist daher ein solches 
Gesetz nach denjenigen Regeln zu beurteilen, welche von der betref- 
1) Die grundlosen Einwendungen, welche v. Martitza.a. O.S. 38fg. gegen 
diese Ausführungen erhoben hat, sind bereits von G. Meyer bei Grünhut VIII, S. 31 
zurückgewiesen worden. Vgl. auch Seligmann S. Yöfg. 
2) Vgl. z. B. Schulze, Preuß. Staatsrecht I, S. 206; Westerkamp S. 9.
	        
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