Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

$ 74. Das Eisenbahnwesen. 135 
Als Ziel der vom Reiche zu befolgenden, verfassungsmäßigen 
»Tarifpolitik« wird aber nicht nur die Gleichmäßigkeit, sondern 
auch die Herabsetzung der Tarife hingestellt und es wird sogar 
ein ganz bestimmter Tarifsatz für gewisse Gegenstände als Ziel der 
verfassungsmäßigen Wünsche des Deutschen Reiches angegeben !). 
Bei dem Mangel an Zwangsmitteln, durch welche das Reich die 
Erzielung gleichmäßiger und herabgesetzter Tarife usw. erwirken kann, 
verliert auch die Bestimmung des Protokolls vom 25. November 1870, 
Ziff. 2 (Bundesgesetzbl. S. 657), durch welche »anerkannt wurde, daß 
auf den württembergischen Eisenbahnen bei ihren Bau-, Be- 
triebs- und Verkehrsverhältnissen nicht alle im Art. 45 aufgeführten 
Transportgegenstände in allen Gattungen von Verkehren zum Ein- 
pfennigsatz befördert werden können«, einen großen Teil ihrer ju- 
ristischen Bedeutung. 
So wie es nun aber tatsächlich gelungen ist, ein allgemeines Einver- 
ständnis der Bundesregierungen über das Betriebsreglement zu erreichen, 
so ist es — allerdings unter großen Schwierigkeiten — auch geglückt, 
eine Verständigung der deutschen Staats- und Privateisenbahnverwal- 
tungen über ein gemeinsames Tarifsystem zu erzielen, das freilich nicht 
mit der »möglichsten Herabsetzung«, von welcher Art. 45 der Reichs- 
verfassung spricht, sondern mit einer durchschnittlichen Erhöhung der 
Tarife verbunden war?) Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 
14. Dezember 1876 beschlossen, daß gegen dessen Einführung unter 
gewissen Einschränkungen vom Standpunkte des Reiches nichts zu 
erinnern sei und hat angeordnet, daß ihm bis zum 1. Januar 1880 be- 
hufs weiterer Beschlußnahme eingehende Mitteilung über den prak- 
tischen Erfolg des neuen Systems gemacht werden soll?) Die Gel- 
erkennt dies im Widerspruch mit seinen Ausführungen über Art. 42ff., insbesondere 
über Ziff. 1 desselben Artikels 45, an; freilich hat der Bundesrat bisher keine „Tarif- 
ordnung“ erlassen; daher besteht kein Bedürfnis, seine Zuständigkeit dazu zu recht- 
fertigen. 
1) Die Fassung des Art. 45, Ziff. 2 ist in vielfacher Hinsicht mißglückt. Abge- 
sehen davon, daß ein bestimmter Rechtsinhalt fehlt und statt dessen eine Tendenz 
ausgesprochen ist, der die Tarifpolitik des Reiches folgen soll, erhebt sich die Frage, 
worin die „möglichste“ Gleichmäßigkeit bestehe, was eine „größere“ Entfernung sei, 
welche Gegenstände Kohlen, Holz, Erzen, Salz, Düngungsmitteln usw. „ähnlich“ seien, 
wem die Entscheidung darüber zustehe, ob ein Tarif „dem Bedürfnis der Landwirt- 
schaft und Industrie entspreche“ und was es bedeute, daß der Einpfennigtarif „zu- 
nächst tunlichst“ eingeführt werden soll. Vgl. auch Seydel, Kommentar S. 279, 
und namentlich die Rede des Abgeordneten Berger vom 20. Januar 1875. Stenogr. 
Berichte 1874/75, S. 1122. 
2) Bereits durch Beschluß vom 11. Juni 1874 hat der Bundesrat ausgesprochen, 
‚daßvom Standpunkt des Reiches gegen eine mäßige, im Durchschnitt 
den Betrag von 20 Prozent nicht übersteigende Erhöhung der Eisenbahnfracht- 
tarıfe unter der Voraussetzung nichts zu erinnern sei, daß ein gewisses, 
näher angegebenes, Tarifsystem zur Einführung gelange“. Der Wortlaut ist abge- 
druckt in Hirths Annalen 1874, S. 1528. 
3) Ueber die Entwicklung der sogennanten Tarifreform ist zu vergleichen die
	        
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