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Erzählungen gelesen, die uns von Italienern, Deutschen, Franzosen
und Engländern überliefert sind. Gerade in Straßburg sind wir
durch ebenso farbenreiche Schilderungen über den schwarzen Tod
unterrichtet, wie über die entsetzliche Katastrophe von Florenz und
London. Interesse historischer Art bietet dabei die Auffassung dar,
mit welcher die verschiedenen Völker den gräßlichen Gast empfingen,
und welche sich in den Erzählungen hier eines Villani, dort eines
Knighton, des französischen Berichterstatters von Nangis und des
deutschen von Straßburg widerspiegeln. Wenn auch an keinem die-
ser Orte die nackte Rohheit des Sinnengenusses sich mit dem Lei-
chenhumor so vermischte, wie man neuerer Zeit wol mehr nach Pa-
riser Phantasie von Eugen Sues Choleragemälde, als auf Grund
der Quellen vermuthet hat, so waren doch Eindruck und Wirkungen
der Pest in Florenz allerdings anders als in London. In Deutsch-
land nimmt die durch das Ereignis entartete Phantasie am meisten
Vorstellungen von religiöser Vergeltung und einer alle Stände gleich-
machenden Instiz in sich auf, wie sich in den Todtentänzen der
Maler dies ausdrückt. Auch die Secte der Geißler ist bezeichnend
für diese Richtung, welche die Pest zwar in allen Ländern, aber
doch am meisten in Deutschland zu neuem Aufschwung brachte, und
die gleichsam das moralische und physische Elend der Zeit zu dem Ab-
schluß einer ins Burleske hinüber streifenden religiösen Selbstpeini-
gung brachte.
Noch sind uns die Reime erhalten, die die Geißler in Straß-
burg gesungen, wenn sie sich im Kothe der Erde peitschten:
„Nun hevbet auf die starken Hände,
Daß Gott dies große Sterben wende.“
Man rechnet, daß im Durchschnitt, überall wo die Pest auftrat,
der vierte Theil der Bevölkerung starb, was nicht ausschließt, daß
man in manchen Gegenden behauptete, es wäre nur ein Drittel der
Einwohner übrig geblieben. Diese Zahlen sind natürlich nicht mit
vollem Vertrauen zu gebrauchen, aber tausende von Denen, welche
die große Revolutien in Straßburg und den Indenbrand erlebt