90 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
romanischen Stils sich erhoben und die herrlichen Lieder unserer älteren
classischen Dichtung in jedem Dorfe am Rhein und Main von den
Bauern und Mägden verstanden wurden. Seitdem ist noch auf jeder
Entwicklungsstufe der deutschen Cultur ein häßlicher Bodensatz unge-
brochener Barbarei an den Tag getreten. Als die prächtige Renaissance-
Fassade des Otto-Heinrichs-Baus zu Heidelberg entstand, lag die deutsche
Dichtkunst tief darnieder, und das edle Bauwerk ward durch klägliche
Knittelverse verunziert. Und wieder, als die frohe Zeit unserer zweiten
classischen Dichtung anhob, wurden die bildenden Künste, die nur in der
weichen Luft behäbigen Wohlstandes gedeihen, von dem frischen Hauche
der neuen Zeit kaum berührt, und Goethe verschwendete die Pracht seiner
Verse an lächerliche Bauten, wie jenes römische Haus zu Weimar, das
mit seinen antikisirenden Formen dem Volke fremd bleibt, den gebildeten
Sinn durch kahle Nüchternheit beleidigt. Wohl ist es ein rührender An-
blick, dies Heroengeschlecht des Idealismus, das inmitten der schmucklosen
Armseligkeit kleinfürstlicher Residenzdörfer um die höchsten Güter der
Menschheit warb: unnatürlich weit blieb doch der Abstand zwischen dem
Reichthum der Ideen und der Armuth des Lebens, zwischen den ver-
wegenen Gedankenflügen der Gebildeten und dem grundprosaischen Treiben
der hart arbeitenden Massen. Der Adel einer harmonisch durchgebildeten
Gesittung, wie sie die Italiener in den Tagen Leonardo's beglückte, blieb
den Deutschen noch immer versagt.
Aber wie sie nun war mit allen ihren Mängeln und Gebrechen,
diese literarische Revolution hat den Charakter der neuen deutschen Cul-
tur bestimmt. Sie erhob dies Land wieder zum Kernlande der Ketzerei,
indem sie den Grundgedanken der Reformation bis zu dem Rechte der
voraussetzungslos freien Forschung weiterbildete. Sie erweckte mit den
Idealen reiner Menschenbildung auch den vaterländischen Stolz in unserem
Volke; denn wie unreif auch die politische Bildung der Zeit erscheint,
wie verschwommen ihre weltbürgerlichen Träume, in allen ihren Führern
lebte doch der edle Ehrgeiz, der Welt zu zeigen, daß, wie Herder sagt,
„der deutsche Name in sich selbst stark, fest und groß sei"“. Nicht im
Kampfe mit den Ideen der Humanität, sondern recht eigentlich auf ihrem
Boden ist die vaterländische Begeisterung der Befreiungskriege erwachsen.
Als grausame Schicksalsschläge den in den Wolken fliegenden deutschen
Genius wieder an die endlichen Bedingungen des Daseins erinnert hatten,
da gelangte die Nation durch einen nothwendigen letzten Schritt zu der
Erkenntniß, daß ihre neue geistige Freiheit nur dauern konnte in einem
geachteten, unabhängigen Staate; der Idealismus, der aus Kant's Ge-
danken und Schiller's Dramen sprach, gewann eine neue Gestalt in dem
Heldenzorne des Jahres 1813. Also hat unsere classische Literatur von
ganz verschiedenen Ausgangspunkten her dem nämlichen Ziele zugestrebt
wie die politische Arbeit der preußischen Monarchie. Diesen beiden bil-