Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

98 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
alle Menschenkinder nur „für das was wir Cultur nennen“ geschaffen 
glaubte; er erkannte, daß jedes Volk sein eigenes Maß der Glückselig- 
keit, sein eigenes goldenes Zeitalter hat, und mit wunderbarem Ahnungs- 
vermögen fand er das Eigenste aus dem Seelenleben der Völker heraus: 
der Gegensatz der naiven Cultur des Alterthums und der sentimentalen 
Bildung der modernen Welt ist ihm zuerst klar geworden. Seinem 
prophetischen Blicke enthüllte sich schon der Zusammenhang von Natur 
und Geschichte; er faßte den grandiosen Gedanken „dem Schöpfer nach- 
zugehen, nachzusinnen“, die Offenbarung Gottes in den weltbauenden 
Kräften des Alls wie in den Wandlungen der Menschengeschichte aufzu- 
suchen; er vertiefte die Idee der Humanität, indem er den Menschen ver- 
stand als einen „Ton im Chorgesang der Schöpfung, ein lebend Rad im 
Werke der Natur“. Schärfer als Herder hat kein Mann des achtzehnten 
Jahrhunderts über die endlichen Erscheinungsformen des Christenthums 
geurtheilt, und doch ist Keiner in das Verständniß des Glaubens tiefer 
eingedrungen als dieser von Grund aus religiöse Geist. Die Religion 
zu reinigen von allem geistlosen und unfreien Wesen blieb das höchste 
Ziel seines Strebens. Durch jede seiner Schriften weht der Hauch einer 
tiefen Frömmigkeit, ein inniges, glückseliges Zutrauen zu der Weisheit 
und Güte Gottes, das alle Launen einer selbstquälerischen, leicht verstimm- 
ten Natur schließlich niederzwingt; darum konnte der schonungslose Be- 
kämpfer der Verirrungen der Kirche ohne Heuchelei ein hoher Geistlicher 
und Kirchenbeamter bleiben — ein glänzendes Zeugniß für die maßvolle 
Freiheit des Zeitalters. 
Die neue universale Bildung, welcher Herder's kühne Ahnungen und 
Andeutungen nur den Weg wiesen, empfing nun endlich ihre reine künst- 
lerische Form durch den sprachgewaltigen Dichter, dem ein Gott gab zu 
sagen was er litt. Diese geheimnißvolle Macht der unmittelbaren Ein- 
gebung war es, was die Zeitgenossen zuerst an dem jungen Goethe be- 
wunderten. Bald fühlten sie auch die Kraft seiner unendlichen Liebe, seiner 
unerschöpflichen Empfänglichkeit für alles Menschliche. Es klang wie ein 
Selbstgeständniß, wenn er seinen Gottessohn sagen ließ: „O mein Ge- 
schlecht, wie sehn' ich mich nach dir! und du, mit Herz= und Liebesarmen 
flehst du aus tiefem Drang zu mir.“ Er dichtete nur Erlebtes gleich den 
Sängern der Zeitalter naiver Kunst; doch dieser Geist war so reich und 
vielgestaltig, daß seine Dichtung nach und nach den weiten Umkreis des 
deutschen Lebens umspannte, und während langer Jahrzehnte fast jeder 
neue Gedanke, den die rastlos schaffende Zeit emporwarf, in Goethe's Werken 
seinen tiefsten und mächtigsten Ausdruck fand, bis endlich die ganze Welt 
der Natur und des Menschenlebens in dem ruhigen Auge des Greises sich 
widerspiegelte; und so ist ihm geworden was er sich wünschte, daß heute 
noch da Enkel um ihn trauern, zu ihrer Lust noch seine Liebe dauert. Im 
sicheren Bewußtsein einer ungeheuren Begabung trat er seine Laufbahn
	        
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