Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Goethe's Anfänge. 99 
an und hieß den Schwager Kronos in's Horn stoßen, „daß der Orkus 
vernehme: ein Fürst kommt! — drunten von ihren Sitzen sich die Ge— 
waltigen lüften.“ Wohl war es Fürstenwerk, wie er schon durch seine 
Jugendgedichte der deutschen Lyrik das neue Leben brachte, das Herder 
nur ahnte. Alle die holden und zarten, die süßen und sehnsüchtigen 
Gefühle des deutschen Herzens, die von Klopstock's pathetischem Oden— 
stile übertäubt wurden, gewannen jetzt auf einmal Sprache; die uralten 
Lieder vom Röslein auf der Haide entzückten wieder die gebildete Jugend, 
seit Goethe sie den Hirten und den Jägern ablauschte, ihre Einfalt adelte 
durch den Zauber seiner Kunst; an seinen geselligen Liedern lernten die 
Deutschen wieder, so recht aus Herzensgrunde froh zu sein, unbefangen 
aufzugehen im himmlischen Behagen des Augenblicks. Dann führte der 
Götz die derbe unverstümmelte Kraft und Großheit des alten deutschen 
Lebens der Nation wieder vor die Augen; dann fanden Werther's Leiden 
das erlösende Wort für den Sturm und Drang schwärmerischer Leiden— 
schaft, der die Herzen des jungen Geschlechts erfüllte, und es ward auch 
politisch bedeutsam, daß einmal doch in diesem zerrissenen Volke ein Dichter 
einen unwiderstehlichen, allgemeinen Erfolg errang, wie einst Cervantes, 
und Alles was jung war in schöner Begeisterung sich zusammenfand. Als 
das fridericianische Zeitalter zu Ende ging, riß der Dichter sich los aus 
jenen Herzenskämpfen, denen wir die schönsten Liebesgedichte deutscher 
Sprache verdanken, um nach zehn Jahren höfischen Lebens voll Arbeit 
und Zerstreuung wieder ein Künstler zu werden; er eilte in „jenes Land, 
wo für jeden Empfänglichen die eigenste Bildungsepoche beginnt“, dort 
im Süden lernte er nordische Leidenschaft und Gemüthstiefe mit antiker 
Formenreinheit zu versöhnen. 
So groß er war und so gewaltig sein Einfluß, die Herrschaft über 
unsere Dichtung hat er nie beansprucht, und deutsche Freiheit hätte sie 
Keinem gestattet. Nach wie vor, auch nachdem jener übermächtige Genius 
erstanden war, fluthete die literarische Bewegung in fröhlicher Ungebun— 
denheit dahin: hunderte selbständiger Köpfe nach eigenem Willen thätig; 
überall in den Dichterbünden und Freimaurerlogen ein begeistertes Suchen 
nach reiner Menschlichkeit, nach der Erkenntniß des Ewigen; und überall 
in dem bewegten Treiben die frohe Ahnung einer wundervollen Zukunft. 
Dies Geschlecht fühlte sich wie emporgehoben über die gemeine Wirklichkeit 
der Dinge, wie auf Windesflügeln dahingetragen dem Tage des Lichts, 
der Vollendung der Menschheit entgegen. Die gedankenlose Masse freilich 
verlangte auch damals, wie zu allen Zeiten, nur nach behaglicher Unter— 
haltung; Wieland's schalkhafte Munterkeit war ihr bequemer als Klop— 
stock's Pathos, wie späterhin Kotzebue populärer wurde als Schiller und 
Goethe. Aber in den besten Kreisen der Gesellschaft herrschte ein freu— 
diger Idealismus; er gab der Bildung des Zeitalters das Gepräge. 
Indessen entdeckte die Nation, daß sie neben dem größten Dichter auch 
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