Kant. Schiller's Jugend. 101
der volle langanhaltende Athemzug der Leidenschaft und der gewaltig
aufsteigende Gang der Handlung ließen schon ahnen, daß Deutschland
seinen größten Dramatiker gefunden hatte — einen dictatorischen, zum
Herrschen und Siegen geborenen Geist, der jetzt in den Tagen jugend—
licher Gährung seinen Hörern das Wilde und Gräßliche unwiderstehlich
aufzwang und nachher, gereift und geläutert, die Tausende mit sich empor—
riß über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Aus der lärmenden Rhetorik
dieser Tragödien sprach eine Welt von neuen Gedanken, glühende Sehn—
sucht nach Freiheit und der Haß einer großen Seele wider die starren
Formen der alten Gesellschaft; Rousseau's Schriften und die politische Be—
wegung der Nachbarlande warfen bereits ihre ersten Funken nach Deutsch—
land hinüber. Ein Verächter alles Platten, Engen, Alltäglichen, strebte
dieser Sohn des kleinbürgerlichen Schwabenländchens hinaus in die großen
Kämpfe der historischen Welt; er zuerst band unserer dramatischen Muse
den Kothurn an die Sohlen, führte sie unter Könige und Helden, auf
die Höhen der Menschheit.
Neben solchem Reichthum der Kunst und der Wissenschaft erscheint
die eigentlich politische Literatur unheimlich klein und dürftig. Wie noch
jede große Umgestaltung unseres geistigen Lebens in den Schicksalen einer
deutschen Universität sich widergespiegelt hat, so läßt sich auch wohl ein
Zusammenhang nachweisen zwischen den Anfängen unserer classischen
Literatur und der ersten Blüthe der Georgia Augusta. Die eifrige Pflege
der Rechts- und Staatswissenschaften, die von Göttingen ausging, stand
in Wechselwirkung mit der großen Gedankenströmung des Jahrhunderts,
die sich überall den exacten Wissenschaften ab- und der Freiheit der histo—
rischen Welt zuwandte. Und es war lebendiges Recht was die Göttinger
Publicisten lehrten; die Rechte des Protestantismus und der weltlichen
Reichsstände gegen die schattenhaften Ansprüche des Kaiserthums zu ver-
theidigen galt als Ehrenpflicht der welfischen Professoren. Doch weder
Schlözer's derber Freimuth noch Pütter's Sammlerfleiß, weder die Gelehr-
samkeit der beiden Moser noch irgend eine andere unter den vielen statt-
lichen publicistischen Erscheinungen der Zeit trägt den Stempel des Genies.
Keine Spur von Pufendorf's kühnem Weitblick, keine Spur von jener
schöpferischen Kritik, welche die Dichter mit feurigem Odem berührte; nichts
von der köstlichen Prägnanz des Ausdruckes, die uns an der schönen Lite-
ratur der Zeit entzückt: neben dem Silbertone Lessing'scher und Goethe-
scher Prosa giebt die Sprache Pütter's einen blechernen Klang.
Während die deutsche Dichtkunst und Philosophie die Werke der Nach-
barvölker überflügelte, behielten in der Staatswissenschaft Engländer und
Franzosen die Führung. An der großen politischen Gedankenbewegung
des Jahrhunderts nahm Deutschland einen wirksamen Antheil allein
durch die Thaten und die Schriften des großen Königs, den der literarische
Aufschwung seines Volkes nicht berührte. Wie schwach sind selbst in