Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

202 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
Bauern des Hochgebirges gestaltete er das verklärte Bild eines großen 
Freiheitskrieges und legte Alles darin nieder was nur ein hoher Sinn 
über die ewigen Rechte des Menschen, über den Muth und Einmuth 
freier Völker zu sagen vermag. Der Tell sollte bald für unser politisches 
Leben noch folgenreicher werden als einst Klopstock's Bardengesänge. An 
diesem Gedichte vornehmlich nährte das heranwachsende Geschlecht seine 
Begeisterung für Freiheit und Vaterland; die ganz dramatisch gedachte 
Mahnung: „cseid einig, einig, einig!“ erschien den jungen Schwärmern 
wie ein heiliges Vermächtniß des Dichters an sein eigenes Volk. 
Die nationale Bühne freilich, worauf seit Lessing alle unsere Drama- 
tiker hofften, ist auch durch Schiller den Deutschen nicht geschenkt worden, 
weil kein einzelner Mann sie zu schaffen vermochte. Schiller strebte nach 
einem nationalen Stile, der das Echte und Große der älteren Dramatik, 
den Gestaltenreichthum, die bewegte Handlung und die tiefe Charakteristik 
Shakespeare's, den lyrischen Schwung der antiken, und die strenge Com- 
position der französischen Tragödie bewußt und selbständig in sich ver- 
einigen und darum dem Charakter unserer neuen Bildung entsprechen 
sollte. Aber es fehlte dem Dichter der lebendige Verkehr mit dem Volke. 
Nur der brausende Jubelruf einer großstädtischen Hörerschaft zeigt dem 
Dramatiker, wann er das Allen Gemeine, das wahrhaft Volksthümliche 
gefunden hat. Die Handvoll trübseliger Kleinbürger im Parterre des 
weimarischen Theaterschuppens waren kein Volk, und die vornehmen 
Schöngeister in den Logen des Hofes zollten den Experimenten geistreich 
spielender Willkür den gleichen, ja vielleicht noch lebhafteren Beifall wie 
dem einfach Großen. Es fehlte den Deutschen überhaupt, wie Goethe 
klagte, „eine Nationalcultur, die den Dichter zwingt die Eigenheiten seines 
Genies ihr zu unterwerfen“. Fast nur gebend, wenig empfangend standen 
die Dioskuren von Weimar ihrem Volke gegenüber, das sie erst empor- 
hoben zu reinerer Bildung. Darum sind Beide nach mannigfachen Ver- 
suchen mit Trilogien und Einzeldramen, mit Jamben und Reimpaaren, 
mit Chorgesängen und melodramatischen Einlagen doch nicht dahin gelangt 
für unser Drama eine Kunstform zu schaffen, die als die nationale an- 
erkannt wurde. Wie die feierliche, übertrieben pathetische Declamation der 
weimarischen Schauspieler im übrigen Deutschland nicht zur Herrschaft 
kam, so trieben auch die dramatischen Dichter nach Willkür und Laune 
ihr Wesen, Jeder von vorn beginnend, Jeder bemüht durch neue Künste 
und Künsteleien alle Anderen zu übertreffen. Unsere Bühne bot ein 
Bild der Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei- 
heit zeigte. Niemand hat die kleinliche Zersplitterung des deutschen Lebens. 
und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kunst schmerzlicher empfunden 
als Goethe. Ueber seinen Wilhelm Meister sagte er geradezu: da habe 
er nun „den allerelendesten Stoff, Komödianten und Landedelleute“ wählen 
müssen, weil die deutsche Gesellschaft dem Dichter keinen besseren biete;
	        
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