Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Das Volk in Waffen. 295 
Waffendienste waren alle denkenden Offiziere einig. Der Gedanke der 
allgemeinen Wehrpflicht war schon vor dem Kriege von Scharnhorst selbst, 
von Boyen, Lossau und anderen Offizieren vertheidigt, von dem Könige selbst 
reiflich erwogen worden; während des unglücklichen Feldzugs hatte er dann 
in der Stille seinen Weg gemacht, und jetzt war jedem einsichtigen Soldaten 
klar, daß der ungleiche Kampf nur mit dem Aufgebote der gesammten Volks— 
kraft wieder aufgenommen werden konnte. Gleich nach dem Frieden bat 
Blücher seinen lieben Scharnhorst „vor einer National-Armee zu sorgen, 
Niemand auf der Welt muß eximirt sein, es muß zur Schande gereichen, wer 
nicht gedient hat“. Prinz August sendete noch aus der Kriegsgefangenschaft 
einen Plan für die Neubildung des Heeres, worin die allgemeine Wehrpflicht 
als leitender Gedanke obenan stand. Scharnhorst aber wußte, was die 
meisten der Zeitgenossen ganz vergessen hatten, daß damit nur ein altpreußi— 
scher Grundsatz erneuert wurde. Er erinnerte den König daran, sein Ahn— 
herr Friedrich Wilhelm J. habe zuerst unter allen Fürsten Europas die all— 
gemeine Conscription eingeführt; dieser Grundsatz habe Preußen einst groß 
gemacht und sei in Oesterreich und Frankreich nur nachgeahmt wordeng jetzt 
erscheine es geboten, zu dem altpreußischen Systeme zurückzukehren und den 
Mißbrauch der Exemtionen kurzerhand hinwegzufegen; nur so bilde sich 
eine wahre stehende Armee, eine solche die man jederzeit in gleicher Größe 
erhalten könne. Fast genau mit den Worten des alten Soldatenkönigs 
begann Scharnhorst seinen Entwurf für die Bildung einer Reserve-Armee 
also: § 1. Alle Bewohner des Staates sind geborene Vertheidiger desselben. 
Die preußischen Offiziere faßten den Gedanken der allgemeinen Dienst- 
pflicht von Haus aus in einem freieren und gerechteren Sinne auf als 
vormals die Bourgeois der französischen Dircctorialregierung. Die Be- 
siegten dachten zu stolz um die Institutionen des Siegers einfach nachzu- 
ahmen. Man hatte es ertragen, daß der Befehl des Königs einzelne Volks- 
klassen kraft ihrer Standesprivilegien oder aus volkswirthschaftlichen 
Rücksichten von der Cantonspflicht befreite. Aber die Vorstellung, daß der 
Bemittelte sich von der Dienstpflicht loskaufen, ein Unterthan für den anderen 
seine Haut zu Markte tragen solle, war ganz und gar unpreußisch, wider- 
sprach allen Traditionen der Armee. Das französische System der Stellver- 
tretung wurde wohl von einigen Civilbeamten, aber von keinem einzigen 
namhaften Offizier empfohlen. Man dachte demokratischer als die Erben 
der Revolution, verlangte kurz und gut die Wehrpflicht für Alle — und 
nicht bloß als ein Kriegsmittel für den Befreiungskampf, sondern als eine 
dauernde Institution zur Erziehung des Volkes. Ein Verächter aller 
müßigen militärischen Künstelei blieb Scharnhorst doch ein streng geschulter 
Fachmann; er wußte, wie wenig die Begeisterung allein die Ausdauer, 
die Kunstfertigkeit, die Mannszucht des geübten Soldaten ersetzen kann. 
Aus seiner reichen Geschichtskenntniß hatte er die Ueberzeugung gewonnen, 
je weicher die Sitten würden, um so nöthiger sei den Nationen die mili-
	        
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