Landwehr. Krümpersystem. 207
nüchtern voraus, wie viele Zeit vergehen muß bevor aus einem bewaffneten
Haufen eine kriegstüchtige Truppe wird. Sein Plan war: das stehende
Heer beginnt den Angriff; unterdessen bildet sich die Reserve-Armee aus
den ausgedienten und überzähligen Soldaten sowie aus allen jüngeren
Cantonspflichtigen; die Wohlhabenden treten als freiwillige Jäger ein.
Diese Landwehr übernimmt den Festungsdienst und die Belagerung der
vom Feinde besetzten Plätze; sobald sie genügend ausgebildet ist, zieht sie
dem Heere nach und an ihre Stelle rückt die inzwischen versammelte Miliz,
ein Landsturm, der alle noch übrigen Wehrhaften umfaßt. Scharnhorst
wußte, wie ungern Napoleon sich der Vendeeer Kämpfe erinnerte, wie
sehr er den Volksaufstand fürchtete; er hoffte den Befreiungskampf mit
einem kleinen Kriege zu eröffnen, der sich auf einige Festungen oder ver-
schanzte Lager stützen sollte, und ließ das für solchen Zweck so ungünstige
Terrain der norddeutschen Ebene sorgsam auskundschaften. Gneisenau
dachte sogar aus dem kleinen Spandau ein Torres Vedras der Ebene zu
machen, als er von Wellington's portugiesischen Siegen erfuhr.
Aber alle diese Hoffnungen wurden zu Schanden. Sobald Napoleon
von einem neuen preußischen Landwehrplane hörte, griff er stets sofort
mit herrischer Drohung ein; nicht einen Schritt durfte ihm der verhaßte
Gegner über die Pariser Versprechungen hinausgehen, nur er selber be-
hielt sich vor sie mit Füßen zu treten. Man mußte endlich einsehen, daß
die Bildung einer Landwehr schlechterdings unmöglich blieb so lange
Preußen noch nicht in der Lage war an Frankreich den Krieg zu er-
klären. Das Einzige, was bis dahin geschehen konnte ohne das Miß-
trauen des Imperators aufzustacheln, war die raschere Ausbildung der
Mannschaften des stehenden Heeres. Die gesetzliche zwanzigjährige Dienst-
zeit der Cantonspflichtigen blieb unverändert, doch man hob ihrer so vicle
aus als irgend möglich und beurlaubte dann diese leidlich ausexercirten
Krümper nach einigen Monaten. Die vertragsmäßige Heeresziffer wurde
dabei nicht allzu streng eingehalten; das Leibregiment in Berlin ließ jahre-
lang, so oft die Truppe zum Felddienst ausrückte, einen Theil der Mann-
schaft in der Kaserne zurück, damit Napoleon's Späher die Stärke der
Bataillone nicht bemerkten. Es konnte nicht fehlen, daß manche Wehr-
pflichtige sich der strengeren Aushebung durch die Flucht entzogen, wie
umgekehrt viele Conscribirte aus den Rheinbundslanden nach Preußen
hinüberflohen; es gab beständig kleine Unruhen an den Landesgrenzen,
der arme Mann wurde ganz irr an der wüsten Zeit. Im Ganzen zeigte
das Volk dem Könige hingebende Treue; geschah es doch einmal, daß
Bauern aus der Umgegend Nachtis eine Kanone von den Wällen der
westphälischen Festung Magdeburg stahlen und sie zu Schiff nach Spandau
entführten: ihr angestammter Herr brauche Waffen gegen den Franz-
mann. Durch dies Krümpersystem bildete Scharnhorst nach und nach
150,000 Soldaten nothdürftig aus. Ein tragisches Schauspiel, wie der
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