Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Landwehr. Krümpersystem. 207 
nüchtern voraus, wie viele Zeit vergehen muß bevor aus einem bewaffneten 
Haufen eine kriegstüchtige Truppe wird. Sein Plan war: das stehende 
Heer beginnt den Angriff; unterdessen bildet sich die Reserve-Armee aus 
den ausgedienten und überzähligen Soldaten sowie aus allen jüngeren 
Cantonspflichtigen; die Wohlhabenden treten als freiwillige Jäger ein. 
Diese Landwehr übernimmt den Festungsdienst und die Belagerung der 
vom Feinde besetzten Plätze; sobald sie genügend ausgebildet ist, zieht sie 
dem Heere nach und an ihre Stelle rückt die inzwischen versammelte Miliz, 
ein Landsturm, der alle noch übrigen Wehrhaften umfaßt. Scharnhorst 
wußte, wie ungern Napoleon sich der Vendeeer Kämpfe erinnerte, wie 
sehr er den Volksaufstand fürchtete; er hoffte den Befreiungskampf mit 
einem kleinen Kriege zu eröffnen, der sich auf einige Festungen oder ver- 
schanzte Lager stützen sollte, und ließ das für solchen Zweck so ungünstige 
Terrain der norddeutschen Ebene sorgsam auskundschaften. Gneisenau 
dachte sogar aus dem kleinen Spandau ein Torres Vedras der Ebene zu 
machen, als er von Wellington's portugiesischen Siegen erfuhr. 
Aber alle diese Hoffnungen wurden zu Schanden. Sobald Napoleon 
von einem neuen preußischen Landwehrplane hörte, griff er stets sofort 
mit herrischer Drohung ein; nicht einen Schritt durfte ihm der verhaßte 
Gegner über die Pariser Versprechungen hinausgehen, nur er selber be- 
hielt sich vor sie mit Füßen zu treten. Man mußte endlich einsehen, daß 
die Bildung einer Landwehr schlechterdings unmöglich blieb so lange 
Preußen noch nicht in der Lage war an Frankreich den Krieg zu er- 
klären. Das Einzige, was bis dahin geschehen konnte ohne das Miß- 
trauen des Imperators aufzustacheln, war die raschere Ausbildung der 
Mannschaften des stehenden Heeres. Die gesetzliche zwanzigjährige Dienst- 
zeit der Cantonspflichtigen blieb unverändert, doch man hob ihrer so vicle 
aus als irgend möglich und beurlaubte dann diese leidlich ausexercirten 
Krümper nach einigen Monaten. Die vertragsmäßige Heeresziffer wurde 
dabei nicht allzu streng eingehalten; das Leibregiment in Berlin ließ jahre- 
lang, so oft die Truppe zum Felddienst ausrückte, einen Theil der Mann- 
schaft in der Kaserne zurück, damit Napoleon's Späher die Stärke der 
Bataillone nicht bemerkten. Es konnte nicht fehlen, daß manche Wehr- 
pflichtige sich der strengeren Aushebung durch die Flucht entzogen, wie 
umgekehrt viele Conscribirte aus den Rheinbundslanden nach Preußen 
hinüberflohen; es gab beständig kleine Unruhen an den Landesgrenzen, 
der arme Mann wurde ganz irr an der wüsten Zeit. Im Ganzen zeigte 
das Volk dem Könige hingebende Treue; geschah es doch einmal, daß 
Bauern aus der Umgegend Nachtis eine Kanone von den Wällen der 
westphälischen Festung Magdeburg stahlen und sie zu Schiff nach Spandau 
entführten: ihr angestammter Herr brauche Waffen gegen den Franz- 
mann. Durch dies Krümpersystem bildete Scharnhorst nach und nach 
150,000 Soldaten nothdürftig aus. Ein tragisches Schauspiel, wie der 
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