Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Der Aufruf an Mein Volk. 429 
Von ähnlichen Zweifeln wurde General Bülow gepeinigt; der hatte sich 
wochenlang geschickt zwischen den Zumuthungen der Russen und der Fran— 
zosen hindurchgewunden, mitten zwischen den Kriegführenden sein Reserve— 
corps verstärkt und völlig selbständig erhalten. Flehentlich bat er den 
König, das von Allen ersehnte befreiende Wort zu sprechen: „freiwillig 
werden die größten Opfer gebracht werden und Quellen werden sich öffnen, 
die man längst versiegt glaubte!“ Als immer noch keine bestimmte Ant— 
wort erfolgte, entschloß er sich endlich auf eigene Faust zu handeln, ver— 
abredete mit York und Wittgenstein (22. Febr.) das gemeinsame Vorrücken 
gegen die Oder. Auch General Borstell, ein gestrenger Mann der alten 
militärischen Schule und abgesagter Feind der Scharnhorstischen Refor— 
men, begann am Ende einzusehen, daß der blinde Gehorsam in solcher 
Lage nicht mehr ausreichte; auch er beschwor den König: „lassen Sie uns 
los,“ schrieb nach England um Geld und Waffen und zeigte schließlich 
(27. Febr.) dem Monarchen an, er breche jetzt mit seinen Pommern in 
die Neumark auf um mit York und Bülow vereinigt gegen die Haupt— 
stadt vorzugehen. In denselben Tagen kehrte Gneisenau zur See aus 
England heim, hielt seinen fröhlichen Einzug in Kolberg, der Wiege seines 
Ruhms, fest entschlossen die Truppen geradeswegs gegen den Feind zu 
führen. Noch nie war die Mannszucht des Heeres auf schwerere Proben 
gestellt worden; Alle empfanden es wie eine Erlösung, als endlich York 
aus Breslau den Befehl erhielt sich an Wittgenstein anzuschließen und 
bald darauf öffentlich von aller Schuld freigesprochen wurde. Am 2. März 
überschritt Wittgenstein die Oder, am 10. folgten die Preußen. Das 
Kriegsbündniß trat in Kraft. 
Und welcher Wirrwarr unterdessen in der Hauptstadt! Da saß noch 
immer Goltz mit seiner unglücklichen Regierungscommission, noch immer 
ohne jede Kenntniß von den Plänen des Staatskanzlers, unablässig be— 
müht durch strenge Verbote die Zusammenrottungen und Aufläufe in der 
krampfhaft erregten Stadt niederzuhalten. Der ängstliche Mann, der 
nichts sein wollte als ein „einfacher Agent des königlichen Willens,“ wußte 
sich kaum mehr zu helfen als der Aufruf an die freiwilligen Jäger er— 
schien. Einzelne Vorwitzige fragten wohl: für und gegen wen? Die un— 
geheure Mehrzahl durchschaute sofort was der König meinte, in dichten 
Schaaren drängten sich die Freiwilligen herbei; der Magistrat nahm die 
Sammlungen für die unbemittelten Krieger in seine Hand; Tausende 
junger Männer gaben den letzten Linientruppen, die aus Berlin nach 
Schlesien abzogen, unter kriegerischen Gesängen das Geleite. Am 20. Fe— 
bruar sprengte ein kleiner Trupp Kosaken durch die östlichen Thore hinein. 
Mehrere Deutsche hatten sich angeschlossen; einer davon, der junge Alexan— 
der von Blomberg fiel hier als des deutschen Krieges erstes Opfer. Mit 
Mühe wurden die Massen von einem unzeitigen Straßenkampf abgehalten. 
Goltz gerieth mit dem Prinzen Heinrich und dem patriotischen Kreise, der
	        
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