442 I. 4. Der Befreiungskrieg.
dieser Krieg der Nothwehr jedes Mittel heilige. Sobald der Feind heran-
nahte, sollten auf das Geläute der Sturmglocken alle Männer vom fünf-
zehnten bis zum sechzigsten Jahre aufstehen, ausgerüstet mit Piken, Beilen,
Sensen, Heugabeln, mit jeder Waffe, die nur stechen oder hauen konnte;
denn auf die Länge habe der Vertheidiger in jedem Terrain immer das
Uebergewicht. Der Landsturm wird verpflichtet zur Späherei und zum
kleinen Kriege: der Feind muß wissen, daß alle seine zerstreuten Abthei-
lungen sofort erschlagen werden. Der Feigling, der Sklavensinn zeigt,
ist als Sklave zu behandeln und mit Prügeln zu bestrafen. Auf Befehl
des Militärgouverneurs müssen ganze Bezirke verwüstet, Vieh und Ge-
räthe weggeschafft, die Brunnen verschüttet, das Getreide auf dem Halme
verbrannt werden. Wird eine Gegend überrascht, so sind alle Behörden
alsbald aufgelöst — offenbar eine Erinnerung an die tragikomischen Er-
fahrungen von 1806. Wer genöthigt ward dem Feinde einen Eid zu
leisten ist an den erzwungenen Schwur nicht gebunden. Auch diesen un-
geheuren Anforderungen kam das treue Volk mit Freuden nach soweit
es möglich war. In jedem Kreise trat eine Schutzdeputation zusammen
zur Leitung des Landsturms. Die müden Alten und die unbärtigen
Jungen übten sich eifrig im Gebrauche ihrer rohen Waffen sowie in der
freien Kunst des Pfeifens, die den Landstürmern anempfohlen war. Mit
Vorliebe pflegte dies Volksheer unbesetzte Höhen zu erstürmen — so
machte man seinem Namen doch Ehre. In dem Berliner Landsturm
exercirten die Professoren der Universität zusammen in einer Compagnie
— einer reisigen Schaar, die allerdings mehr durch wissenschaftlichen
Ruhm als durch kriegerische Kunstfertigkeit glänzte; ja es geschah, daß
sogar die Berliner Damen aufgeboten wurden zum Bau der Feldschanzen
im Süden der Hauptstadt. Die Errichtung des Landsturmes brachte den
großen militärischen Vortheil, daß nach und nach fast die gesammte Linie
und Landwehr für den Feld= und Festungskrieg verfügbar wurde. Von
der Ostsee bis zu den Riesenbergen standen auf allen Höhen die Fanale,
von Landstürmern behütet.
Das Volksaufgebot erwies sich nützlich im Wach= und Botendienste,
auch zum Wegfangen der Marodeure und Versprengten. Im offenen
Kampfe dagegen ist der Landsturm nur ganz ausnahmsweise verwendet
worden: so erklangen während der ersten Apriltage, noch bevor das Gesetz
erschienen war, die Sturmglocken in allen Dörfern an der Havel und
bewaffnete Bauernhaufen schlossen sich freiwillig den Truppen an, die
gegen Magdeburg zogen. In den großen Städten rief die fanatische Härte
des Gesetzes begründete Beschwerden hervor. Da überdies die Gefahr
anarchischer Zügellosigkeit sehr nahe lag, das bürgerliche Leben der Arbeits-
kräfte nicht entbehren konnte und die Beamten der alten Schule vor be-
waffneten Volkshaufen ein instinctives Grauen empfanden, so wurden schon
im Laufe des Sommers die übertriebenen Ansprüche des Edicts durch einige