Das preußische Wehrgesetz. 593
alten zwanzigjährigen Dienstzeit der Cantonisten ward allen Wehrfähigen
für neunzehn Jahre die Waffenpflicht aufgelegt. Sie dienten fünf Jahre
im stehenden Heere, davon drei Jahre bei den Fahnen, zwei Jahre als
beurlaubte Reservisten, und traten im sechsundzwanzigsten Lebensjahre
auf sieben Jahre in das erste Aufgebot der Landwehr ein. Dies Auf—
gebot war in Kriegszeiten, wie das stehende Heer, zum Dienste im In—
und Auslande verpflichtet, hielt an bestimmten Tagen in der Heimath
kleinere Uebungen ab und vereinigte sich jährlich einmal mit Abtheilungen
des stehenden Heeres zu längeren Manövern. Das zweite Aufgebot der
Landwehr, ebenfalls mit siebenjähriger Dienstzeit, wurde während des
Friedens nur in der Heimath und an einzelnen Tagen versammelt,
diente im Kriege zunächst zur Verstärkung der Garnisonen; doch behielt
sich der König vor auch diesen Theil der Landwehr im Allgemeinen „zur
Verstärkung des Heeres“ zu verwenden, so daß eine Verwendung im
Auslande nicht ausgeschlossen war. Der Landsturm endlich, nur für den
äußersten Fall zur Abwehr feindlicher Angriffe bestimmt, sollte alle irgend
Waffenfähigen vom siebzehnten bis zum fünfzigsten Jahre umfassen. Die
Söhne der gebildeten Stände, die sich selber ausrüsteten, dienten nur
ein Jahr bei der Fahne, traten schon nach drei Jahren in die Landwehr
ein und hatten den ersten Anspruch auf die Offiziersstellen der Landwehr.
Die abgesonderten Jägerdetachements blieben aufgehoben, indeß wagte
man noch nicht den demokratischen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht
bis in seine letzten Folgerungen hinauszuführen: die gebildeten Freiwil-
ligen wollte man vornehmlich den Elitecorps der Jäger und Schützen über-
weisen, obwohl ihnen freistand sich auch ein anderes Regiment zu wählen.
Erst die Erfahrung sollte lehren, wie heilsam die Mischung von feineren
und gröberen Elementen für die sittliche Haltung der Truppen war.
Die Kreisausschüsse, welche das Heer mit der bürgerlichen Selbstverwal-
tung verbanden, bestanden in veränderten Formen fort: eine Commission,
gebildet aus dem Landrathe, einem Offizier und mehreren städtischen und
ländlichen Gutsbesitzern, sollte das Ersatzgeschäft in jedem Kreise besorgen.
Noch nie hatte ein moderner Staat in Friedenszeiten so harte For-
derungen an sein Volk gestellt; die Blutsteuer, welche Preußen seinen
Bürgern auferlegte, war unleugbar schwerer als alle anderen Steuern
zusammengenommen. Selbst die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht
wollten kaum ihren Ohren trauen, als sie erfuhren, daß alle Männer
bis zum neununddreißigsten Jahre, allerdings bei völlig freier Wahl des
Wohnsitzes wie des Berufes, sich zum Waffendienste bereit halten sollten.
Es war ein radicaler Bruch mit allen Neigungen und Vorurtheilen einer
friedlich erwerbenden Gesellschaft, ein Wagniß ohne jeden Vorgang, das
nur darum gelingen konnte, weil der Stamm der Landwehr bereits vor-
handen war und die hochherzige Erregung der Kriegszeit noch nachwirkte.
Der König verbarg sich nicht, welchem zähen passiven Widerstande die
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 38