626 II. 1. Der Wiener Congreß.
sich in Dresden umhertrieben, vertraute Freundschaft; sie ließen die sächsi-
schen Truppen in den Rheinlanden durch ihre Sendboten bearbeiten,
standen mit den befreundeten Diplomaten zu Wien in lebhaftem Verkehr
und wußten, des Herrschens gewohnt, das zahme Völkchen daheim nach
und nach dermaßen einzuschüchtern, daß sich bald die große Mehrheit des
Volks in dem Rufe vereinigte: „wir wollen unseren König wieder.“ Man
begann die trefflichen Männer an der Spitze der provisorischen Verwal-
tung als Ueberläufer zu verleumden. Noch vor wenigen Jahren lebte
im Armenhause zu Wahren ein alter Mann, der im Volksmunde der
Verräther hieß; er hatte während des blutigen Kampfes um Möckern
einem preußischen Bataillon einen versteckten Fußweg gewiesen.
Das Bild der jüngsten Ereignisse verschob sich allmählich in dem
Gedächtniß des Volks; die Sünden des Königs waren vergessen, der
Uebergang der Truppen während der Leipziger Schlacht erschien bald
schlechtweg als eine schimpfliche Fahnenflucht. Eine Theilung des Landes
wünschte man freilich noch weniger als die Einverleibung in den preußischen
Staat; man berief sich auf den Czaren, der den klagenden Deputationen
aus Sachsen wiederholt „die Integrität ihres Landes“ zugesichert hatte.
Die politische Urtheilslosigkeit der Masse erkannte nicht, daß diese In-
tegrität nur möglich war, wenn der alte König nicht wiederkehrte. Die
günstigen Nachrichten aus Wien verstärkten jene maßlose Selbstüberschätzung,
die zum Wesen der Kleinstaaterei gehört; man erwartete gemüthlich, ganz
Europa werde die Waffen ergreifen um dem gefangenen Albertiner auch
das letzte seiner Dörfer zurückjzugeben. Bei den Führern der particularisti-
schen Partei reichte allerdings die Einsicht weiter, doch sie wollten lieber
in einem verkleinerten Sachsen die alte Adelsherrlichkeit fortführen als dem
gemeinen Rechte des preußischen Staates sich unterwerfen. Der General-
gouverneur Fürst Repnin schrieb nach der Katastrophe an seinen Gehilfen,
den geistreichen Staatsrath Merian, scharf und treffend: „Ich klage die
hohen Beamten an, die ganz ebenso wie ich überzeugt waren, daß die
Rückkehr des Königs nicht ohne die Zerreißung ihres Vaterlandes statt-
finden konnte. Die selbstsüchtigen Menschen haben lieber das Unglück
ihres Vaterlandes bewirken als ihre persönlichen Vortheile verlieren wollen.
Die Sachsen wollten ihren Fürsten wieder haben und gaben durch ihr
Betragen eine moralische Unterstützung den Absichten jener Mächte, welche
die Theilung Sachsens für vortheilhaft hielten.“)
So lagen die Dinge, als die vier Mächte ihre formlosen Verhand-
lungen über Polen begannen. Hardenberg wollte noch immer nicht sehen,
daß seine sächsischen Hoffnungen rettungslos zu Schanden werden mußten,
wenn er in den polnischen Händeln mit Oesterreich und England Hand
in Hand ging. Entweder wich der Czar vor dem vereinten Widerstande
*) Repnin an Merian, Wien 15./25. Febr. 1815.