Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Oesterreichs scheinbare Vermittelung. 785 
eine winzige Strecke weit, und ließ durch Nesselrode dem Staatskanzler 
erklären: Rußland halte zwar wie England unwiderruflich fest an dem 
Gedanken der vorübergehenden Occupation (le systeme des garanties 
temporaires lautete der Kunstausdruck); damit seien jedoch einige kleine 
Gebietsabtretungen wohl vereinbar. Also Landau an Deutschland, Sa- 
voyen an Piemont, einige Grenzplätze an die Niederlande, vielleicht auch 
Hüningen an die Schweiz; für Preußen selber gar nichts. Auch diese 
Denkschrift triefte wieder von Lehren der Weisheit und Tugend: „das 
doppelte Ziel der Beruhigung Europas und Frankreichs kann nur erreicht 
werden, wenn die Verbündeten bei den Friedensunterhandlungen dieselbe 
Reinheit der Absichten, dieselbe Uneigennützigkeit, denselben Geist der Mäßi- 
gung bewahren, welche bisher die unwiderstehliche Kraft des europäischen 
Bundes gebildet haben.““) Trotz Alledem that der Cear jetzt doch selber 
was er vor zwei Tagen noch für einen Verrath an Religion und Sitt- 
lichkeit erklärt hatte, er gab die mit so viel heiliger Entrüstung verfochtene 
Unantastbarkeit des französischen Bodens auf und bahnte damit den Weg 
zur Verständigung. In einem vertraulichen Begleitbriefe beschwor Nessel- 
rode den Staatskanzler, „diese traurige Angelegenheit rasch zu beendigen. 
Dies werde dem Czaren das liebste Geburtstagsgeschenk sein. Nichts ist 
Ihm und uns Allen peinlicher als diese Meinungsverschiedenheit zwischen 
zwei Höfen, deren Beziehungen so innig sind.““) 
Mit großer Gewandtheit benutzte Metternich sofort die Gunst des 
Augenblicks, um als Vermittler zwischen die Streitenden zu treten. In 
einer Denkschrift vom 8. September erkannte er die gemäßigte und ver- 
söhnliche Haltung aller Höfe dankbar an und fand es sehr erklärlich, daß 
gleichwohl in Folge der Verschiedenheit der geographischen Lage und der 
nationalen Stimmungen ihre Ansichten nicht gänzlich übereinstimmten. 
Oesterreich wünsche eine möglichst große Sicherheit aber möglichst geringe 
Opfer für Frankreich und schlage daher „ein gemischtes System von dauern- 
den und zeitlichen Bürgschaften“ vor, also vor Allem die Zurückführung 
Frankreichs auf den Besitzstand von 1790. „Die Grenzen von 1790“ — 
damit war sehr glücklich eines jener handlichen Schlagwörter gefunden, 
wie sie die noch ganz französisch gebildete Diplomatie jener Tage liebte. 
Die weiteren Vorschläge der Denkschrift paßten freilich zu diesem wohl- 
klingenden Worte wie die Faust auf das Augej sie zeigten deutlich, daß 
Metternich nicht ehrlich vermittelte, sondern die englisch-russische Partei 
ergriff. Von jenem Viertel des Elsasses, das im Jahre 1790 noch deutsch 
gewesen, war gar nicht mehr die Rede; vielmehr verlangte der Oester- 
reicher außer Landau und jenen niederländischen Grenzplätzen, welche der 
Czar bereits zugestanden hatte, ausdrücklich nur noch Saarlouis, und 
  
*) Nesselrode an Hardenberg über Castlereagh's Denkschrift v. 2. Sept. (7. Sept. 1815). 
**) Nesselrode an Hardenberg, 7. Sept. 1815. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. J. 50
	        
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