Oesterreichs scheinbare Vermittelung. 785
eine winzige Strecke weit, und ließ durch Nesselrode dem Staatskanzler
erklären: Rußland halte zwar wie England unwiderruflich fest an dem
Gedanken der vorübergehenden Occupation (le systeme des garanties
temporaires lautete der Kunstausdruck); damit seien jedoch einige kleine
Gebietsabtretungen wohl vereinbar. Also Landau an Deutschland, Sa-
voyen an Piemont, einige Grenzplätze an die Niederlande, vielleicht auch
Hüningen an die Schweiz; für Preußen selber gar nichts. Auch diese
Denkschrift triefte wieder von Lehren der Weisheit und Tugend: „das
doppelte Ziel der Beruhigung Europas und Frankreichs kann nur erreicht
werden, wenn die Verbündeten bei den Friedensunterhandlungen dieselbe
Reinheit der Absichten, dieselbe Uneigennützigkeit, denselben Geist der Mäßi-
gung bewahren, welche bisher die unwiderstehliche Kraft des europäischen
Bundes gebildet haben.““) Trotz Alledem that der Cear jetzt doch selber
was er vor zwei Tagen noch für einen Verrath an Religion und Sitt-
lichkeit erklärt hatte, er gab die mit so viel heiliger Entrüstung verfochtene
Unantastbarkeit des französischen Bodens auf und bahnte damit den Weg
zur Verständigung. In einem vertraulichen Begleitbriefe beschwor Nessel-
rode den Staatskanzler, „diese traurige Angelegenheit rasch zu beendigen.
Dies werde dem Czaren das liebste Geburtstagsgeschenk sein. Nichts ist
Ihm und uns Allen peinlicher als diese Meinungsverschiedenheit zwischen
zwei Höfen, deren Beziehungen so innig sind.““)
Mit großer Gewandtheit benutzte Metternich sofort die Gunst des
Augenblicks, um als Vermittler zwischen die Streitenden zu treten. In
einer Denkschrift vom 8. September erkannte er die gemäßigte und ver-
söhnliche Haltung aller Höfe dankbar an und fand es sehr erklärlich, daß
gleichwohl in Folge der Verschiedenheit der geographischen Lage und der
nationalen Stimmungen ihre Ansichten nicht gänzlich übereinstimmten.
Oesterreich wünsche eine möglichst große Sicherheit aber möglichst geringe
Opfer für Frankreich und schlage daher „ein gemischtes System von dauern-
den und zeitlichen Bürgschaften“ vor, also vor Allem die Zurückführung
Frankreichs auf den Besitzstand von 1790. „Die Grenzen von 1790“ —
damit war sehr glücklich eines jener handlichen Schlagwörter gefunden,
wie sie die noch ganz französisch gebildete Diplomatie jener Tage liebte.
Die weiteren Vorschläge der Denkschrift paßten freilich zu diesem wohl-
klingenden Worte wie die Faust auf das Augej sie zeigten deutlich, daß
Metternich nicht ehrlich vermittelte, sondern die englisch-russische Partei
ergriff. Von jenem Viertel des Elsasses, das im Jahre 1790 noch deutsch
gewesen, war gar nicht mehr die Rede; vielmehr verlangte der Oester-
reicher außer Landau und jenen niederländischen Grenzplätzen, welche der
Czar bereits zugestanden hatte, ausdrücklich nur noch Saarlouis, und
*) Nesselrode an Hardenberg über Castlereagh's Denkschrift v. 2. Sept. (7. Sept. 1815).
**) Nesselrode an Hardenberg, 7. Sept. 1815.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. J. 50