96 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
war, wie er nur noch Ketzer oder Jünger kannte und nicht mehr ver—
mochte, ein freies, bescheiden nach der Wahrheit suchendes Gespräch zu
führen. Dank seiner zunehmenden Bequemlichkeit nützte Schlegel der ultra-
montanen Propaganda nur wenig. Weit fruchtbarer wirkte der Pommer
Klinckowström, ein liebenswürdiger romantischer Schwärmer; seine Er-
ziehungsanstalt in Wien wurde die Pflanzschule des klerikalen österreichi-
schen Adels. Sein Schwager, der Augsburger Pilat, geborner Katholik
und Gatte einer Proselytin, leitete den Osterreichischen Beobachter, das
amtliche Blatt Metternichs. Alle anderen aber übertraf Adam Müller
an Talent, Rührigkeit, Fanatismus; es war, als wollte der geistreiche, von
Grund aus verlogene Sophist durch wütenden Ketzerhaß den Makel seiner
Berliner Abstammung auslöschen; überall wo im deutschen Norden Um-
triebe der Jesuiten sich zeigten, hatte er die Hände mit im Spiele. Die
meisten der Federn, welche die deutsche Politik der Hofburg verteidigten,
gehörten diesem Konvertitenkreise an. Nur Gentz selber konnte sich zum
Übertritte nicht entschließen, obschon sein Abschen gegen den Erzrevolu-
tionär Luther immer heftiger wurde; der Kern seiner Bildung war doch
zu fest mit der Kantischen Philosophie verwachsen.
Die aufgeklärten Protestanten hatten sich längst an die zahlreichen
Konversionen gewöhnt; sie wurden erst aus ihrer gedankenlosen Gleichgültig-
keit aufgeschreckt, als man von der Bekehrung des Berners K. L. von Haller
vernahm. Wer durfte dem streitbaren Publizisten, dem leidenschaftlichen
Feinde der Revolution verargen, daß er durch die Konsequenz seiner poli-
tischen Gesinnung zum Glaubenswechsel gezwungen wurde? Aber Haller
hielt seinen Übertritt geheim, mit Genehmigung des Bischofs von Frei-
burg; nachher leistete er noch als Mitglied des Berner Rates den Amts-
eid, der ihn zur Beschützung der reformierten Kirche verpflichtete, und da
das unsaubere Geheimnis endlich durch andere enthüllt wurde, gestand
er in einem offenen „Briefe an seine Familie“ (1821) ganz unbefangen:
er habe aus guten Gründen geschwiegen, damit seine neue Schrift über
die geistlichen Staaten, „weil sie scheinbar aus der Feder eines Prote-
stanten hervorgegangen", um so stärker auf die Leser wirke! Frecher waren
die sittlichen Grundsätze des Jesuitismus selten verkündigt worden. Und
welche Aussichten eröffneten sich dem Frieden der Konfessionen, da der
Apostat, unter dem lauten Beifall der legitimistischen Presse Frankreichs,
triumphierend erklärte: die Welt sei heute nur noch zwischen Katholiken
und Gottlosen geteilt, diesem einen Ubertritte würden tausende folgen,
bis die Menschheit gänzlich den Mächten der kirchlichen und der politischen
Revolution entrissen sei. Eine Flut von Streitschriften erschien. Der
milde Leipziger Kanzelredner Tzschirner, der rationalistische Philosoph Krug
und andere Protestanten sprachen in treuherzigen Worten ihre naive Ver-
wunderung aus. Man begann zu fühlen, auf wie schwachen Füßen doch
die Herrschaft des belobten „vernünftigen Christentums“ stand.