98 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
deckend: wie der Graf schon, als sie im Göttinger Hainbunde zusammen
jugendlich schwärmten, im Stillen sich der „hierarchischen und aristokratischen
Zwangsherrschaft“ zugeneigt habe, bis ihn dann Adelsstolz und Phantasterei
in die Nacht hildebrandinischer Verunreinigung getrieben hätten; „denn
wütender als jemals der Türk droht jetzt der Junker den erleuchteten
Völkern finstere Barbarei“. Einige treffende Bemerkungen über die Hohl-
heit des Konvertitentums und die fromme Selbstbespiegelung des Stol-
bergischen Kreises verschwanden in einem Meere unwahrer Beschuldigungen.
Denn unzweifelhaft war Stolberg nicht wie Haller durch seine politische
Gesinnung zur römischen Kirche geführt worden, sondern durch den religiösen
Drang eines schwachen Gemüts, das sich nie auf sich selber stützen konnte;
Goethes scharfer Blick hatte den Weichmütigen von jeher als einen un-
bewußten Katholiken betrachtet.
Gleich den meisten seiner Altersgenossen hatte Voß sich einst für die
Menschenrechte der Revolution begeistert; jetzt nach dem Sturze der Fremd-
herrschaft flammte die radikale Gesinnung des alten Herrn, der sich wäh-
rend des Befreiungskrieges nicht recht herausgewagt, wieder in wilder
Heftigkeit auf. Höhnend nannte er Napoleon den Würgengel der Hoch-
geborenen und rief dem alten Jugendfreunde zu:
Edlere nennst Du die Söhne Gewapppneter, die in der Vorzeit
Tugend des Doggen vielleicht adelte oder des Wolfs?
Zu diesem fanatischen Adelshasse gesellte sich das Mißtrauen des Ratio-
nalisten gegen jede nicht ganz wasserklare Form des kirchlichen Lebens.
Der Großinquisitor des Rationalismus konnte sich das Wiedererwachen
des religiösen Sinnes nur aus der ruchlosen Wühlerei eines pfäffisch-
ritterlichen Geheimbundes erklären; selbst der Tod des Jugendfreundes,
der den Angriff nicht lange überlebte, besänftigte ihn nicht. Heftige Er-
widerungen der Freunde des Angegriffenen und neue polternde Streitschriften
von Voß, Paulus-Schott, Varnhagen bewiesen nur, wie unmöglich jede
Versöhnung in diesem wüsten Gezänke war. Goethe traf wieder das rechte
Wort, da er sagte:
Mir wird unfrei, mir wird unfroh,
Wie zwischen Glut und Welle,
Als läs' ich ein Kapitolo
Aus Dantes grauser Hölle.
Die widerwärtige Fehde wirkte auf die Stimmung des deutschen Libera-
lismus tief und verderblich ein. Voß und die Gelehrten des Sophronizon
stellten zuerst die Behauptung auf: der Glaube an eine religiöse Über-
lieferung hänge mit dem Glauben an das erbliche Verdienst des Adels
im Innersten zusammen, der freie Mann achte nur „die selbstanerkannte
Geisteswahrheit und die selbsterworbene Verdienstlichkeit.“ Obwohl die
Torheit dieser Sätze Jedem einleuchten mußte, der die konfessionelle Hart-
gläubigkeit der nordamerikanischen Demokratie kannte, so fanden sie doch
Anklang bei der Systemsucht der Deutschen, und allmählich entstand eine