110 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
von revolutionären Begierden noch völlig unberührte Volk: kaum der Wiege
entwachsen, verfocht der süddeutsche Liberalismus schon dieselben Gedanken,
welche einst in Frankreich die Eintagsverfassung von 1791 geschaffen und
bald darauf das Königtum selbst zerstört hatten! Eigentümlich war dem
gutmütigen Freiburger, im Gegensatze zu seinen französischen Vorgängern,
nur jene philisterhafte Harmlosigkeit, die von den Folgen ihrer Lehren gar
nichts ahnte, und ein helleres Verständnis für den kommunalen Unterbau
der Staatsverfassung. Aus den Tiefen des germanischen Geistes empor—
gestiegen, hatten die Gedanken der preußischen Städteordnung in der Stille
schon längst die Runde durch Deutschland gemacht; selbst Rotteck konnte
sich seine konstitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbstver—
waltung denken. Gleichwohl ließ sich der französische Ursprung seiner
Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates
allein in den Verfassungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit,
nicht die Freiheit als das höchste der politischen Güter und urteilte daher
über die Scheinverfassung des Königreichs Westfalen weit milder als
über das alte deutsche Ständewesen.
Darum fand seine Lehre auch die Zustimmung der harten Bonapar—
tisten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann
noch immer den schamlosen Partikularismus. Sie beteuerte: „eher werden
Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd= und Nord-
länder sich vereinigen;“ sie brachte Gespräche zwischen einem kernhaften
„Bayermanne“ und einem geckenhaften pommerschen Landwehrmanne, der
nicht einmal der deutschen Sprache mächtig war; sie verhöhnte und ver-
leumdete alles norddeutsche Wesen und erklärte kurzab, bei dem Namen
„deutsch“ lasse sich gar nichts denken. Aber der alte bajuvarische Sonder-
geist schmückte sich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falsches geschickt
vermischend, schilderte Aretin die Alemannen — so nannte er alle Süd-
deutschen — als die alleinigen Vertreter der konstitutionellen Freiheit,
den Norden als das Land des Feudalismus, und dies schon im Jahre
1816, lange bevor die neuen süddeutschen Verfassungen erschienen waren.
Nachher schrieb er selbst ein Lehrbuch des konstitutionellen Staatsrechts,
das die Grundsätze des neuen Vernunftrechts mit den Anschauungen der
rheinbündischen Bureaukratie zu verschmelzen suchte; und als Aretin dar-
über starb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartisten zu Ende.
In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten sich die Anfänge des
norddeutschen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz
zerrissen, von den alten ständischen Institutionen noch vieles erhalten,
ein warmes Gefühl historischer Pietät fast überall im Volke lebendig. Die
Ideen der Revolution hatten hier niemals so tiefe Wurzeln geschlagen; die
Liberalen vermaßen sich nicht den Staat nach den Abstraktionen des Ver-
nunftrechts völlig neu zu gestalten, sondern verlangten nur die Wieder-
belebung und Fortbildung des alten Ständewesens. Das Organ dieser