222 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
Krone selber nicht leugnete, dem gesamten Staatsgebiete aufzuerlegen.
Daher wurde zwar in den zurückgewonnenen alten Provinzen das Land—
recht nebst der altländischen Gerichtsverfassung sogleich wieder eingeführt,
doch nicht ohne mannigfache Ausnahmen. In Westfalen sollten die Patri—
monialgerichte nur da wiederhergestellt werden, wo die Berechtigten aus—
drücklich darauf antrugen, und dies geschah nur in vier Fällen. In
Posen verzichtete man gänzlich auf die Herstellung dieser Gerichte wegen
der Unzuverlässigkeit des polnischen Adels, und gestattete außerdem noch das
mündliche Verfahren für einfache Rechtsstreitigkeiten. In Sachsen dagegen,
dem gelobten Lande der endlosen Prozesse, war jedermann zufrieden, als
die Rechtspflege schlechthin auf altpreußischen Fuß gebracht wurde; nur die
zahlreichen Advokaten klagten laut über den Untergang ihres Gewerbes.
Neuvorpommern endlich behielt sein gemeines Recht und das altberühmte
Greifswalder Appellationsgericht, weil das Volk diese Institutionen zu
seinen alten, im Kieler Frieden bestätigten Landesfreiheiten rechnete.
Große und unerwartete Schwierigkeiten ergaben sich bei der Neuge—
staltung der Rechtspflege am Rhein. Mit der vorläufigen Organisation
der rheinischen Gerichte wurde der Präsident Sethe beauftragt, ein treuer
preußischer Patriot aus dem clevischen Lande, der einst schweren Herzens
in den bergischen Staatsdienst übergetreten war und dort das französische
Recht gründlich kennen gelernt hatte. Er entledigte sich seiner Aufgabe
mit Einsicht und Unparteilichkeit, unbesorgt um den Zorn der feudalen
Partei, die ihn des Bonapartismus beschuldigte, wie um die endlosen
Klagen des rheinischen Volks, das noch von den Zeiten des Kölnischen
Klüngels her gewohnt war überall vetterschaftliche Durchstecherei zu arg—
wöhnen.“) Bald nachher, im Juni 1816, trat in Köln unter Sethes
Vorsitz eine Immediatkommission zusammen, der auch ein altländischer
Richter, Simon, angehörte. Sie sollte prüfen, ob es möglich sei, das rhei—
nische Recht mit dem preußischen in Einklang zu bringen, und erhielt von
dem Könige die ausdrückliche Weisung, „das Gute überall wo es sich finde
zu benutzen“.
In den ersten Zeiten des Siegesrausches war die Abschaffung des
Code Napoleon von allen Patrioten, auch von den deutschgesinnten Rhein—
ländern selbst als ein unabweisbares Gebot der nationalen Ehre betrachtet
worden; alle Welt hatte Savigny zugestimmt, als er die fünf Codes eine
überstandene politische Krankheit nannte. Selbst das altgermanische öffent—
lich-mündliche Verfahren, das in der französischen Gesetzgebung wieder
aufgelebt war, galt den eifrigen Teutonen als eine willkürliche revo-
lutionäre Neuerung; so vollständig war die vaterländische Rechtsgeschichte in
Vergessenheit geraten. Mittlerweile schlug die Stimmung im Lande gänzlich
um. Der Provinzialgeist erwachte und begann alles Bestehende als be-
)Kircheisen an Hardenberg, 7. Dezember 1815, an Sethe, 5. Januar 1816.