Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Linie und Landwehr. 229 
Heeres standen wieder vor der nämlichen Aufgabe, welche einst Carnot in 
seiner Weise gelöst hatte als er aus den weißen Linienregimentern der 
Bourbonen und den blauen Nationalgarden der Republik seine neuen 
Halbbrigaden zusammenschmolz. 
Bei diesen Beratungen ergab sich bald eine Meinungsverschieden— 
heit zwischen dem König und dem Kriegsminister. Boyen überschätzte doch 
die Kriegstüchtigkeit seiner Landwehr, obschon er natürlich die volkstüm— 
lichen Fabeln nicht glaubte. Er urteilte nach seinen Erfahrungen beim 
Bülowschen Korps; hier war die Landwehr immer gut beisammen ge— 
blieben, da sie erst unter Bernadottes schlaffer Führung, dann auf dem 
bequemen holländischen Feldzuge nur selten zu Gewaltmärschen und außer— 
ordentlichen Strapazen gezwungen wurde. Dem Könige dagegen stand 
noch in frischer Erinnerung, wie haltlos die Landwehr des Kleistschen 
Korps während der furchtbaren Regentage nach der Dresdner Schlacht 
sich gezeigt; er wußte auch, daß im Feldzuge von 1815 drei Viertel der 
Versprengten der Landwehr angehört hatten. Um die Wiederkehr solchen 
Unheils zu verhüten, wollte der König die Landwehr stets mit der Linie 
vereinigt ihre Übungen abhalten lassen, je eine Brigade der Linie und 
der Landwehr zu einer Division verbinden, zahlreiche Offiziere der Linie 
zur Landwehr abkommandieren und die höheren Stellen regelmäßig nur 
Linienoffizieren anvertrauen, während Boyen die vollständige Trennung 
der beiden Offizierskorps beizubehalten riet, damit Reibungen zwischen 
Militär und Zivil verhütet wurden und der eigentümliche Geist der Land- 
wehr ungestört bliebe. 
Mittlerweile wagte Herzog Karl von Mecklenburg den ersten offenen 
Angriff gegen die Grundlagen des neuen Heerwesens. Er überreichte um 
Neujahr 1818 seinem königlichen Schwager eine lange Denkschrift, welche 
ohne eigene Vorschläge aufzustellen mit düsteren Farben die schweren den 
Thron bedrohenden Gefahren schilderte, die Zügellosigkeit der Presse, den 
Übermut der Studenten und vor allem die Boyensche Heeresverfassung: 
sie drücke den Aufrührern die Waffen in die Hände; selbst der Landwehr- 
zeughäuser war nicht vergessen, die so leicht einem meuternden Haufen 
zur Beute fallen könnten.)) Die reaktionäre Partei wagte sich endlich 
mit ihren Herzenswünschen heraus. Auch Knresebeck stimmte dem Herzog 
bei, und sogar dem tapferen Prinzen August, der einst unter den ersten 
den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht verteidigt hatte, erschienen 
jetzt die unleugbaren Mängel der Landwehrordnung so bedenklich, daß er 
die Umkehr zu dem alten Beurlaubungssysteme empfahl. Mit dem ganzen 
Unwillen seines ehrlichen Herzens wendete sich Witzleben gegen die Männer, 
„welche den Regenten vom Volke, das Haupt vom Rumpfe zu trennen 
  
*) Der wesentliche Inhalt dieser Denkschrift erhellt aus Witzlebens Entgegnungs- 
schrift vom 25. Januar 1818 (bei Dorow, Witzleben, S. 93). Die Person ihres Ver- 
fassers ergibt sich aus einer Bemerkung in Witzlebens Tagebuch, Mai 1819.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.