Dramatische Dichtung. 17
„sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ nannte; ihnen
fehlte, trotz ihrer geistreichen Einfälle und großen Absichten, gänzlich die
Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des schöpfe—
rischen Genius. Obgleich sie sich vermaßen das klassische Ideal durch eine
volkstümliche Dichtung zu verdrängen, so blieben ihre Werke doch dem
Volke fremd, das Eigentum eines kleinen Kreises bewundernder Kenner.
Die Kunst galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philister ungenieß—
bar, allein den Gottbegnadeten berauschte, so daß der Trunkene der Wirk-
lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenspiel belächelte. Diese
souveräne Ironie, die sich rühmte „den Scherz als Ernst zu treiben, Ernst
als Spaß nur zu behandeln,“ widerte den gesunden Sinn der Menge
an; denn das Volk will im Gewissen gepackt sein und läßt mit seinen
Gefühlen nicht spielen.
« Unter den älteren deutschen Dramatikern ließen die romantischen
Kunstrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei seinen reifsten
Werken an die Bühne kaum gedacht; die stille, sinnige Schönheit der
Iphigenie und des Tasso war nur der Andacht des Lesers völlig faßbar,
sie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Lessing wurde gar nicht
mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragische Leidenschaft als hohle
Rhetorik verspottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman—
tischen Anschauungen nahe stand, Heinrich von Kleist, blieb von der Kritik
der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirksamsten Bühnen—
schriftsteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater
beherrschten, Iffland und Kotzebue, überschüttete der romantische Hoch-
mut mit einer ungerechten Geringschätzung, welche die jungen Talente
von der Bühne zurückschrecken mußte. Man wollte an jenem nur die
ehrbare spießbürgerliche Empfindsamkeit, an diesem nur die Plattheit und
die gemeine Gesinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines technisches
Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch sie Beide
ihre dünkelhaften Tadler beschämten. Von den dramatischen Versuchen
der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und sie
bestanden allesamt die Probe auf den Brettern schlecht. Die Führer
der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, sprachen mit Hohn von
der gemeinen Prosa des theatralischen Erfolgs. Ganz unbekümmert um
die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder sieben
Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerschaft
befriedigen sollte, baute sich die dramaturgische Theorie ihre stolzen Wol-
kengebilde und stellte überspannte Anforderungen, denen sogar die festliche
Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.
So vertraulich wie einst Shakespeare oder Moliere hatten selbst die
Heroen unserer klassischen Dichtung niemals zu der Bühne gestanden.
Jetzt aber ward der persönliche Verkehr zwischen Dichtern und Schau-
spielern immer seltener. Die dramatische Kunst vergaß, daß sie vor allen
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 2