Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Dramatische Dichtung. 17 
„sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“ nannte; ihnen 
fehlte, trotz ihrer geistreichen Einfälle und großen Absichten, gänzlich die 
Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des schöpfe— 
rischen Genius. Obgleich sie sich vermaßen das klassische Ideal durch eine 
volkstümliche Dichtung zu verdrängen, so blieben ihre Werke doch dem 
Volke fremd, das Eigentum eines kleinen Kreises bewundernder Kenner. 
Die Kunst galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philister ungenieß— 
bar, allein den Gottbegnadeten berauschte, so daß der Trunkene der Wirk- 
lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenspiel belächelte. Diese 
souveräne Ironie, die sich rühmte „den Scherz als Ernst zu treiben, Ernst 
als Spaß nur zu behandeln,“ widerte den gesunden Sinn der Menge 
an; denn das Volk will im Gewissen gepackt sein und läßt mit seinen 
Gefühlen nicht spielen. 
« Unter den älteren deutschen Dramatikern ließen die romantischen 
Kunstrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei seinen reifsten 
Werken an die Bühne kaum gedacht; die stille, sinnige Schönheit der 
Iphigenie und des Tasso war nur der Andacht des Lesers völlig faßbar, 
sie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Lessing wurde gar nicht 
mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragische Leidenschaft als hohle 
Rhetorik verspottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman— 
tischen Anschauungen nahe stand, Heinrich von Kleist, blieb von der Kritik 
der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirksamsten Bühnen— 
schriftsteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater 
beherrschten, Iffland und Kotzebue, überschüttete der romantische Hoch- 
mut mit einer ungerechten Geringschätzung, welche die jungen Talente 
von der Bühne zurückschrecken mußte. Man wollte an jenem nur die 
ehrbare spießbürgerliche Empfindsamkeit, an diesem nur die Plattheit und 
die gemeine Gesinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines technisches 
Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch sie Beide 
ihre dünkelhaften Tadler beschämten. Von den dramatischen Versuchen 
der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und sie 
bestanden allesamt die Probe auf den Brettern schlecht. Die Führer 
der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, sprachen mit Hohn von 
der gemeinen Prosa des theatralischen Erfolgs. Ganz unbekümmert um 
die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder sieben 
Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerschaft 
befriedigen sollte, baute sich die dramaturgische Theorie ihre stolzen Wol- 
kengebilde und stellte überspannte Anforderungen, denen sogar die festliche 
Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können. 
So vertraulich wie einst Shakespeare oder Moliere hatten selbst die 
Heroen unserer klassischen Dichtung niemals zu der Bühne gestanden. 
Jetzt aber ward der persönliche Verkehr zwischen Dichtern und Schau- 
spielern immer seltener. Die dramatische Kunst vergaß, daß sie vor allen 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 2
	        
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