Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

280 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates. 
man die ständische Verfassung der neuen Provinzen erhalten und sie der 
allgemeinen Verfassung anschließen? Hieß das nicht, diese Provinzen als 
unabhängige Staaten anerkennen und sie zugleich einem neuen Staate 
einfügen? Und erhielt man ihre Verfassung, durften sie dann nicht for— 
dern, daß die allgemeine Verfassung nur mit Zustimmung ihrer Stände 
geschaffen werde? Ein Gewirr verwickelter, unlösbarer Rechtsfragen erhob 
sich hier; der Staat selber forderte den ständischen Partikularismus seiner 
Landschaften heraus, die unbedachte Zusage der Krone gab das Signal 
zu einem Verfassungskampfe, der die Grundfesten der schwer errungenen 
Staatseinheit bedrohte. 
So unglücklich die Form der Verordnung vom 22. Mai, ebenso um— 
fassend war der Plan, der ihr zugrunde lag. Hardenberg nahm die 
weitgreifenden Reformgedanken aus Steins kräftigsten Tagen wieder auf; 
er beabsichtigte eine neue Kreis- und Gemeindeordnung für den gesamten 
Staat, aus den Kreisständen sollten dann die Provinzialstände, aus diesen 
die Reichsstände hervorgehen. Nichts lag seinen Ansichten ferner als eine 
geistlose Nachahmung der französischen Charte von 1814; vielmehr ver- 
suchte er die Formen der alten deutschen Landstände umzubilden für die 
Zwecke des modernen Repräsentativsystems. Die königliche Verordnung ge- 
brauchte die Worte „Repräsentation des Volks“ und „Stände“ abwechselnd 
als gleichbedeutende Ausdrücke; die Absicht war, einen in drei Stände ge- 
gliederten Reichstag zu bilden, der aber gänzlich auf dem Boden des Staats- 
rechtes stehen, nicht die wohlerworbenen Rechte einzelner privilegierter Klassen, 
sondern die Interessen des gesamten Volks vertreten sollte. Der Plan 
stimmte zu den Anschauungen der Zeit; denn obwohl die Einteilung der 
Nation in Ritterschaft, Bürger und Bauern den Zuständen der modernen 
Gesellschaft, namentlich im Westen, längst nicht mehr entsprach, so war 
doch die öffentliche Meinung noch daran gewöhnt. Auch die neuen süd- 
deutschen Verfassungen gingen von ähnlichen Grundsätzen aus: die erste 
Kammer war überall eine altständische Körperschaft, im wesentlichen eine 
Adelsvertretung, die zweite Kammer in der Regel in mehrere ständische 
Gruppen gegliedert. In Preußen bestanden die neuen Kreisversamm- 
lungen, wie die Nationalrepräsentation von 1811, aus den Vertretern der 
drei Stände; und obgleich der Staatskanzler für soziale Unterschiede keine 
Vorliebe hegte, so erkannte er doch die Notwendigkeit, die Neuerungen an 
das Gewohnte und Hergebrachte anzuschließen. 
Aber selbst eine solche zwischen dem Alten und dem Neuen vermittelnde 
Verfassung begegnete in Preußen einem Widerstande, den die Staaten des 
Südens nicht zu überwinden hatten; er entsprang den großen, mannig- 
faltigen Verhältnissen dieses Staates und jener klugen Schonung, welche 
die Hohenzollern in dem langen Kampfe gegen die ständische Libertät 
immer bewiesen. In den Staaten des Rheinbundes waren die alten Land- 
tage durch die rohen Fäuste eines despotischen Beamtentums längst be-
	        
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